Das Neglect-Syndrom ist eine neurologische Störung, die meist nach einem Schlaganfall auftritt. Betroffene beachten dann eine Körper- und Raumhälfte nicht mehr, was sie anfangs oft selbst nicht bemerken. Es können verschiedene Sinnesbereiche betroffen sein, etwa Sehen, Hören, Fühlen oder Bewegung, meist in Mischformen. Die Erkrankung entsteht durch Schädigungen in bestimmten Hirnregionen. Eine frühe, spezifische und intensive Therapie kann die Symptome deutlich lindern und ermöglicht vielen Betroffenen eine teilweise Heilung sowie die Rückkehr in den Alltag.
Prof. Kerkhoff: Der Neglect (oder synonym: "Vernachlässigung", "räumlicher Neglect") ist eine neurologische Erkrankung, die meist nach einem Schlaganfall der rechten (seltener auch der linken) Gehirnhälfte auftritt. Die Betroffenen beachten die zur geschädigten Gehirnhälfte gegenüberliegende Hälfte des eigenen Körpers und auch des umgebenden Raumes (z.B. am Tisch, beim Lesen, beim Film schauen und auch beim Autofahren) nicht mehr. Zum Beispiel:
Prof. Kerkhoff: In den ersten Monaten nach der Erkrankung bemerken die Betroffenen ihre eigene Erkrankung nicht. Dies liegt nicht etwa daran, dass sie die Erkrankung verdrängen, sondern es ist die direkte Folge der geschädigten Gehirnregionen. Nach einigen Monaten realisieren die Betroffenen besser, dass sie unter dieser Erkrankung leiden. Dieses Erkennen der eigenen Erkrankung ist auch wichtig für die weitere Behandlung.
Prof. Kerkhoff: Wie schon angesprochen, entsteht der Neglect meist infolge eines Schlaganfalles. Dieser schädigt Gehirnregionen, die das bewusste Wahrnehmen und die Hinwendung unserer Aufmerksamkeit auf bedeutsame Reize in der gegenüberliegenden Hälfte unseres Körpers und des umgebenden Raumes regeln. Dies kann man sich wie einen Suchscheinwerfer vorstellen, mit dem der Raum "ausgeleuchtet" wird. Ist dieser Suchscheinwerfer beschädigt, wird eine Hälfte nicht mehr "ausgeleuchtet". Als Folge davon beachtet die betroffene Person alles in dieser Hälfte nicht mehr, verspätet oder nur gelegentlich.
Prof. Kerkhoff: Diese verschiedenen Arten des Neglects beschreiben in der Regel den Sinneskanal, in dem der Neglect auftritt. So stellen sich die unterschiedlichen Arten eines Neglects dar:
Prof. Kerkhoff: In der Regel tritt der Neglect als Mischform auf; ein Neglect nur in einer einzigen Domäne ist sehr selten. Dies liegt daran, dass die zugrundeliegenden Schädigungen des Gehirns meist relativ groß sind. Als Folge davon sind mehrere Netzwerke beschädigt, die für die einzelnen Arten von Neglect verantwortlich sind.
In der Regel tritt der Neglect als Mischform auf; ein Neglect nur in einer einzigen Domäne ist sehr selten.
Prof. Kerkhoff: Die meisten Erklärungstheorien des Neglects gehen von einer Netzwerkstörung in den Regionen des Gehirns aus, welche mit der bewussten Wahrnehmung und Hinwendung der Aufmerksamkeit zu einer Hälfte des eigenen Körpers und des auf dieser Seite befindlichen Außenraumes befasst sind.
Prof. Kerkhoff: Typischerweise sind drei Regionen im Gehirn betroffen: der untere Scheitellappen (parietal), der obere Schläfenlappen (temporal), und seltener der untere Vorderhaupts Lappen (frontal). Ein Neglect kann auch nach sehr kleinen Schädigungen in tiefliegenden Regionen des Gehirns auftreten: dies sind das Zwischenhirn (Thalamus), die Stammganglien (Basalganglien), und auch das Kleinhirn (Cerebellum). Alle diese Regionen sind in einem Netzwerk miteinander verbunden.
Prof. Kerkhoff: In der Frühphase (die ersten 2-3 Wochen nach dem Schlaganfall) erfolgt die Diagnostik meist durch die Verhaltensbeobachtung und einfache Tests, später dann durch genauere Testverfahren.
Prof. Kerkhoff: Die Behandlung des Neglects betrifft viele therapeutisch arbeitende Berufsgruppen, da sich die Erkrankung in vielen Funktionsbereichen zeigt (etwa Bewegen, Sehen, Denken usw.). Die Therapien sollten zunächst möglichst frühzeitig nach dem Schlaganfall schon auf einer speziellen Schlaganfall-Station ("stroke unit") erfolgen, später dann in einer neurologischen Rehabilitationsklinik.
Die Behandlungen sollten von Neuropsychologen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Ärzten und weiteren beteiligten Berufsgruppen möglichst spezifisch (für den Neglect) und möglichst oft durchgeführt werden, da diese beiden Faktoren wichtig für den Erfolge und einen positiven Krankheitsverlauf sind. Intensivere spezifische Neglect-Behandlung führt in der Regel zu einem besseren Verlauf.
In der aktuellen Leitlinie zum Neglect (der Deutschen Gesellschaft für Neurologie) werden folgende vier Behandlungen als wirksam empfohlen: aktives Explorieren und Orientieren zur vernachlässigten Seite, langsame Folgebewegungen zur vernachlässigten Seite (optokinetische Stimulation), Nackenmuskelvibration, und kontinuierliche Magnet-Stimulation (Theta-Burst Stimulation) in Kombination mit zumindest einem weiteren Trainingsverfahren. Es gibt zahlreiche weitere Behandlungsverfahren, die aber noch nicht ausreichend wissenschaftlich überprüft worden sind.
Zusammenfassend gilt: möglichst frühzeitige, spezifische und häufige Behandlungen führen zu einer partiellen Heilung des Neglects.
Auch nach der Klinikphase ist weitere ambulante und Heimtherapie unbedingt empfehlenswert, um weitere Fortschritte zu erzielen. Eine genaue Darstellung der aktuellen Therapien findet sich im Buch von Kerkhoff & Schmidt. Die Neglect-Leitlinie finden Sie HIER.
Prof. Kerkhoff: Aus der Therapieforschung des Neglects ist bekannt, dass mehr spezifische Behandlung zu einem besseren Verlauf führt. Deshalb ist es sinnvoll, nachdem die Betroffenen die Klinik verlassen haben, auch zu Hause ein Training des Neglects durchführen, um eine höhere Behandlungsintensität zu erzielen. Diese Home-Trainings können mit speziellen Computerprogrammen durchgeführt werden. Wirksame Computerprogramme zur Neglect-Behandlung finden sich z.B. unter folgenden Internetadressen: https://www.medicalcomputing.de/eyemove/ und https://neuro-vision-training.com/
Prof. Kerkhoff: Ja, die akuten Zeichen der Blickabweichung verschwinden zwar meist nach 3 Monaten, aber eine leichte Vernachlässigung einer Raum- oder Körperhälfte kann auch Jahre nach einem Schlaganfall noch bestehen bleiben. Dies nennt sich dann Rest-Neglect.
Prof. Kerkhoff: Ja, der Neglect ist zumindest teilweise heilbar. Es gibt zahlreiche wirksame Behandlungsverfahren, die den Neglect lindern. Auch kann der Neglect nach intensiver Behandlung bei manchen Betroffenen so deutlich reduziert werden, dass diese Menschen wieder am alltäglichen Leben teilhaben können und in sogar ihren Beruf zurückkehren können. Dies ist vermutlich aber nicht bei allen Betroffenen erreichbar und hängt unter anderem auch von der Größe der Hirnschädigung und den zusätzlichen Symptomen bzw. Erkrankungen ab. In jedem Fall ist umfangreiche und langfristige Behandlung notwendig, um den Neglect zumindest teilweise zu heilen.
Ja, der Neglect ist zumindest teilweise heilbar.
Prof. Kerkhoff: Betroffene sind in der Regel in allen Alltagshandlungen deutlich beeinträchtigt, da wir die Fähigkeit der bewussten Wahrnehmung und die Zuwendung unserer Aufmerksamkeit zu beiden Seiten in allen Bereichen unseres täglichen Lebens benötigen. Die häufigsten Einschränkungen sind:
Prof. Kerkhoff: Beim Neglect ist die bewusste Zuwendung der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ("Suchscheinwerfer") zu einer Raum- und Körperhälfte beeinträchtigt. Bei einer Halbseitenblindheit ist dies dagegen gut möglich, aber die Betroffenen sehen in der einen Seite ihres Sehfeldes ("Gesichtsfeld") nichts mehr. Diese Halbseitenblindheit wird auch als Hemianopsie bezeichnet. Einfach zusammengefasst: beim Neglect wird eine Seite nicht beachtet, bei der Halbseitenblindheit nicht gesehen.
Prof. Kerkhoff: Die Forschung beschäftigt sich einerseits mit der besseren Erfassung des Neglects (durch Tests, aber auch bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie) um auch mildere Formen der Krankheit erfassen zu können und den Verlauf besser dokumentieren zu können. Es werden auch neue Behandlungsverfahren des Neglects entwickelt und in ihrer Wirksamkeit erprobt (z.B. akustische Trainings).
Manche Behandlungen wenden sich den häufig bei einem Neglect auftretenden Teilstörungen (Teilkomponenten) zu wie etwa der Leseproblematik, oder dem Problem mehrere visuelle Reize gleichzeitig links und rechts erfassen zu können (Extinktion). Diese Teilstörungen können mit speziell dafür entwickelten Behandlungsverfahren besser behandelt werden. Dadurch können Betroffene besser in ihren häuslichen Alltag und Beruf eingegliedert werden.
Prof. Kerkhoff: Ja, es gibt den "Ratgeber Neglect – Leben in einer halbierten Welt" von Kerkhoff, G. und Mitarbeitern (2020), 2. aktualisierte Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 26.05.2025.