In Deutschland nimmt das Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen weiter zu, besonders seit der Pandemie. Ursachen sind ein komplexes Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, ungesunder Ernährung, Bewegungsmangel, übermäßigem Medienkonsum, Schlafdefiziten und sozialen Ungleichheiten. Prävention muss früh beginnen – bereits vor und während der Schwangerschaft sowie in den ersten Lebensjahren – und immer die gesamte Familie einbeziehen. Nachhaltig wirksam sind nur Maßnahmen, die individuelles Verhalten, familiäre Routinen und strukturelle Veränderungen miteinander verbinden, wie etwa eine gesunde Kita- und Schulverpflegung, Bewegungsräume und klare Regeln für Werbung.
Prof. Joisten: In Deutschland sind 15,4% der 3–17-Jährigen übergewichtig (inkl. Adipositas), 5,9% adipös (KiGGS Welle 2, 2014–2017). Nach der Pandemie gibt es noch keine Daten; allerdings zeigen jüngste Einschulungsdaten regional teils steigende Adipositasraten bei Erstklässlern (z. B. NRW 2023: 7,7% adipös).
Prof. Joisten: Grundsätzlich ist es immer eine Dysbalance zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch. Wie stark sich dieses Ungleichgewicht aber bemerkbar macht, ist u.a. abhängig von unserer Genetik, aber auch Umfeldfaktoren wie energiedichte, stark verarbeitete Lebensmittel, gezuckerte Getränke, allgegenwärtiges Kindermarketing, Bewegungsmangel, hohe Sitzzeiten und zu kurze Schlafzeiten sowie soziale Ungleichheit, die einen erheblichen Einfluss nehmen. Insgesamt handelt es sich also um ein sehr komplexes, multifaktorielles Geschehen.
Prof. Joisten: Die Familie spielt eine wichtige Rolle, die sich aber – je nach Alter der Kinder – unterschiedlich gestaltet. Zunächst kann eine familiäre Veranlagung vorliegen, d.h. der BMI beider Elternteile und anderer naher Verwandte deutet auf eine genetische Determination hin. Übrigens spielt sogar der BMI zum Zeitpunkt der Konzeption eine wichtige Rolle. Hinzu kommen häusliche Ess- und Bewegungsroutinen, Medienkonsum sowie das Vorbildverhalten und die Gesundheitskompetenz. Familien mit niedrigerem sozioökonomischem Status sind zusätzlich belastet.
Übrigens spielt sogar der BMI zum Zeitpunkt der Konzeption eine wichtige Rolle.
Prof. Joisten: Im Rahmen der U-Untersuchungen wird der BMI bzw. dessen Verlauf registriert. Diese Möglichkeiten können Kinder- und Jugendärzte nutzen, um mit Eltern in den Dialog zu kommen und den Betroffenen zur Teilnahme an qualifizierten Schulungsprogrammen zu raten. Diese sind in der Regel multimodal angelegt, d.h. Ernährung, Bewegung, psychosoziale und relevante medizinische Inhalte werden Eltern und Kindern vermittelt. Besonders wichtig sind aber auch verhältnispräventive Maßnahmen in Kitas, Schulen, Ausbildungsstätten, in denen die Kinder und Jugendliche viel Zeit verbringen und die in Form einer zweiten Gesundheitsumwelt entsprechende Impulse setzen können.
Da vor allem die Werbung und Bewegungsräume eine wichtige Rolle spielen, gilt es natürlich auch hier, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, dass auch die Umwelt von Kindern und Jugendlichen gesundheitsförderlich ausgestaltet wird.
Prof. Joisten: Genetische Einflüsse auf den BMI sind substantiell und liegen zwischen 30 und 70%. Das wurde schon vor Jahrzehnten an Adoptions- und Zwillingsuntersuchungen aufgezeigt. Zunehmend werden monogene Formen entdeckt, die einen kleinen Anteil der früh beginnenden, schweren Adipositas ausmachen. Davon sind etwa 3 bis 4% der Kinder betroffen. Meistens handelt es sich infolge der Evolution aber um ein polygenetisches Geschehen, auf das Umwelt und Verhalten einen erheblichen Einfluss haben und das genetische Risiko erheblich puffern.
Prof. Joisten: Tatsächlich spielt bereits der Lebensstil von Mutter und Vater vor der Schwangerschaft eine wichtige Rolle, kurz gesagt: gesund leben ist für jede Altersgruppe und auch jede Gewichtsklasse relevant. In dieser besonderen Phase der ersten 1000 Tage, d.h. von Konzeption bis etwa 2 Jahre nach der Geburt, werden wichtige Stoffwechsel-Weichen gestellt. Man spricht auch von der perinatalen Prägung. Im Sinne einer gesunden Gewichts- und Stoffwechselentwicklung ist daher körperliche Aktivität, eine normgerechte Gewichtszunahme in der Schwangerschaft, Nichtrauchen, Stillen und ein gesunder Start in Beikost und Familienessen essenziell.
In dieser besonderen Phase der ersten 1000 Tage, d.h. von Konzeption bis etwa 2 Jahre nach der Geburt, werden wichtige Stoffwechsel-Weichen gestellt.
Prof. Joisten: Viele Studien haben einen Zusammenhang zwischen einem geringen sozioökonomischen Status und der Entwicklung von Übergewicht und Adipositas aufzeigen können. Das geht leider Hand in Hand mit einem niedrigeren Bildungsgrad, Einkommen und ungünstigeren Wohnumfeld. Wichtig ist daher neben der Ausgestaltung gesundheitsförderlicher Nachbarschaften auch die Möglichkeit, in der Schule "Gesundheit" zu lernen und damit kompetent im Kontext "Gesundheit" zu werden. Gerne wird dies auch mit Gesundheitskompetenz überschrieben.
Prof. Joisten: Der Mix zählt: täglich mindestens 60, besser 90 Minuten moderate bis intensive Bewegung plus muskel- und knochenkräftigende Aktivitäten an mindestens 3 Tagen die Woche - im Kitaalter rund 180 Minuten Gesamtbewegung pro Tag. Zusätzlich sollte die Bildschirmmedienzeit altersentsprechend begrenzt werden. Für Kinder unter drei Jahren beispielsweise gibt es keinen Grund, bereits Bildschirmmedien zu nutzen. Zu einer ausgewogenen, gesundheitsförderlichen Ernährungsweise zählen vorrangig unverarbeitete Lebensmittel, Wasser/ungesüßte Getränke, Verzicht auf zuckerhaltige Getränke, aber auch Energy-Drinks.
...täglich mindestens 60, besser 90 Minuten moderate bis intensive Bewegung plus muskel- und knochenkräftigende Aktivitäten an mindestens 3 Tagen die Woche...
Prof. Joisten: Lebensstilprogramme wirken, aber im Mittel klein-bis-moderat und benötigen Intensität, Familienbezug sowie Auffrischungen, sonst verpuffen Effekte. Außerdem sollten parallel die entsprechenden Umfeldbedingungen angepasst werden. Studien haben gezeigt, dass Spielplätze und Parkanlagen nicht nur wohnortnah, sondern auch sauber und sicher gestaltet sein müssen, damit sie (überhaupt) genutzt werden.
Prof. Joisten: Grundsätzlich gilt: Strukturen vor Verboten. Das heißt, dass gemeinsam abgestimmte Regeln für den Medienkonsum sowie die Essgewohnheiten und Schlafenszeiten festgelegt werden. Beispielsweise sollte kein Fernsehen bei den Mahlzeiten parallel laufen und kein Gerät im Kinderzimmer stehen. Von klein auf können gemeinsame Aktivitäten drinnen und draußen unternommen werden, Eltern und Kinder können gemeinsam kochen. All diese Aktivitäten sind nicht nur gut für die Gewichtsentwicklung und das Einüben gesunder Verhaltensweisen, sondern auch das Familienklima.
Grundsätzlich gilt: Strukturen vor Verboten.
Prof. Joisten: Gesundheits- und Bewegungsförderung in Institutionen wie Kitas, Schulen, aber auch Ausbildungsstätten mit gesunder Verpflegung und entsprechenden Unterrichtsbausteinen erzielen kleine, aber robuste BMI-Effekte – vor allem, wenn sie strukturell verankert in den Curricula sind.
Prof. Joisten: Eine hohe Bildschirmmedienzeit steigert nachweislich das Adipositas-Risiko. Zusätzlich bedeutet dies eine höhere "Konfrontation" mit Werbung und auch die entsprechend gesteigerten Präferenzen und Konsum ungesunder Produkte. Werbebeschränkungen, v. a. für vermeintlich gesunde bzw. Kinderlebensmittel, sowie eine Begrenzung der Medienzeit ist daher essenziell in der Prävention von Übergewicht.
Prof. Joisten: mHealth- und eHealth-Programme können kleine Verbesserungen bei Aktivität, Sitzzeit und BMI erzielen. Auch sie sollten familienbasiert sein und in bestehende Versorgung integriert werden. Aber natürlich hier gilt ebenfalls einen guten Umgang mit den Medien zu finden.
Prof. Joisten: Aufgrund des Wachstums gibt es für Mädchen und Jungen BMI-Kurvensysteme, die in Perzentilen eingeteilt sind. Liegt man im Bereich über der 90. bis zur 97. Perzentile, spricht man von Übergewicht. Liegt man darüber, also über der 97. Perzentile, dann spricht man von Adipositas. Eine Behandlung sollte früh und stufenweise begonnen werden - insbesondere, wenn mögliche Begleit- oder Folgeerkrankungen vorliegen (könnten). Inwiefern eine medikamentöse, oder ab 16 Jahren sogar eine chirurgische Maßnahme erforderlich ist, muss in spezialisierten Zentren abgeklärt werden.
Prof. Joisten: Generell besteht ein hohes Risiko, dass Übergewicht persistiert, d.h. auch in höherem Lebensalter bestehen bleibt. Bereits im Kindes- und Jugendalter finden sich in einem gewissen Prozentsatz Begleiterscheinungen wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, gestörte Zuckerverwertung, Gefäßveränderungen, v. a. orthopädische und psychosoziale Folgen wie Mobbing oder Ausgrenzung. Daher sind frühzeitige Interventionen essenziell.
Prof. Joisten: Wie bereits mehrfach angedeutet, könnten vor allem die geänderten Verhältnisse zu einer Trendwende beitragen. Das bedeutet, dass das Kindermarketing auch wirklich angegangen werden muss. Eine Zuckersteuer wäre auch für die betroffenen Erwachsenen relevant. Außerdem muss die Lebensmittelkennzeichnung verpflichtend und vor allem nachvollziehbar eingeführt werden. Es müssen bewegungsfreundliche Umgebungen geschaffen werden.
Eine Zuckersteuer wäre auch für die betroffenen Erwachsenen relevant.
Prof. Joisten: Die inzwischen gut nachweisbaren größten Veränderungen ergeben sich durch Verhältnisprävention. Dazu gehört die oben erwähnte Werberegulierung, Preis- und Steuerpolitik, gesunde Kita-/Schulverpflegung plus tägliche Bewegung. Parallel müssen auch familienbasierte Programme regelhaft in die Versorgung integriert werden. Zwar steht ein entsprechendes DMP (Disease Management Programm) in den Startlöchern, die Umsetzung ist aber noch völlig offen und ohne eine adäquate Kostenübernahme wird es zum Rohrkrepierer.
Damit Prävention langfristig wirksam sein kann, sollten Ernährung und Bewegung ein selbstverständlicher Teil der Ausbildung all jener sein, die mit Menschen arbeiten – ob in Kita, Schule oder im Gesundheitswesen. Nachhaltige Gesundheitsförderung ist eine gemeinsame, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auf vielen Schultern ruht.
Prof. Joisten: Nachhaltigkeit entsteht nicht durch kurzfristige Maßnahmen, sondern durch konsequent angelegte, multimodale Programme, die über einen längeren Zeitraum hinweg umgesetzt (und bezahlt) werden. Besonders wichtig ist, dass nicht nur die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst adressiert werden, sondern ihr gesamtes familiäres Umfeld mit einbezogen wird. Eltern haben einen entscheidenden Einfluss auf Ernährungsgewohnheiten, Bewegungsverhalten und Mediennutzung.
Damit positive Veränderungen bestehen bleiben, braucht es regelmäßige sogenannte Booster-Sitzungen, also Auffrischungen und Begleitung auch nach der eigentlichen Interventionsphase. Darüber hinaus ist die strukturelle Verankerung wesentlich: Wenn Maßnahmen in Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten oder in der kommunalen Gesundheitsförderung fest implementiert werden, wirken sie über das individuelle Verhalten hinaus auf die Lebenswelten ein. So lassen sich nachhaltige Effekte erzielen – ohne diese dauerhafte Einbettung nehmen Interventionseffekte erfahrungsgemäß nach einiger Zeit wieder ab.
Damit positive Veränderungen bestehen bleiben, braucht es regelmäßige sogenannte Booster-Sitzungen, also Auffrischungen und Begleitung auch nach der eigentlichen Interventionsphase.
Prof. Joisten: Besonders wirksam ist ein präventiver Ansatz, der sehr früh ansetzt: Bereits vor, spätestens während der Schwangerschaft, in der Stillzeit und in den ersten zwei Lebensjahren lassen sich entscheidende Weichen für eine gesunde Entwicklung stellen. Präventionsmaßnahmen entfalten die größte Wirkung, wenn sie die Familie als Ganzes einbeziehen, denn dort entstehen die grundlegenden Routinen für Ernährung, Bewegung, Schlaf und Mediennutzung.
Neben dieser individuellen Ebene braucht es Veränderungen im Umfeld: klare Standards für Bewegung und gesunde Ernährung in Kitas und Schulen, die Regulierung von Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke, sowie politische Maßnahmen wie Preis- und Steuerregulierungen, v. a. für stark zuckerhaltige Produkte. Digitale Tools können diesen Prozess sinnvoll unterstützen, wenn sie eng begleitet und in bestehende Programme eingebettet werden. Zusammengenommen zeigt sich, dass nachhaltige Prävention nur dann gelingt, wenn individuelle Förderung, familiäre Unterstützung und strukturelle Veränderungen ineinandergreifen.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 20.08.2025.