Prof. Hummel: Typ-1-Diabetes stellt die häufigste Form einer Diabeteserkrankung im Kindes- und Jugendalter dar und wird durch eine autoimmunvermittelte Zerstörung der insulinproduzierenden ß-Zellen der Bauchspeicheldrüse verursacht. Typ-2-Diabetes hingegen wird durch eine unzureichende Insulinsekretion vor dem Hintergrund von Insulinresistenz und Übergewicht verursacht. Typ-2-Diabetes tritt deutlich seltener im Kindes- und Jugendalter auf, wobei in den letzten Jahren eine Zunahme der Kinder mit Typ-2-Diabetes Diagnose beobachtet wurde.
Prof. Hummel: Typ-1-Diabetes kann in jedem Lebensalter auftreten, am häufigsten bricht die Erkrankung während der Pubertät aus. Zu den typischen Symptomen eines Typ-1-Diabetes gehören: ein starkes Durstgefühl, häufiges Wasserlassen, Gewichtsabnahme, Müdigkeit und Abgeschlagenheit.
Diese werden jedoch häufig nicht oder erst sehr spät erkannt. Mehr als 80% der Kinder, die Typ-1-Diabetes entwickeln, haben keine Familienangehörigen oder Verwandten mit Typ-1-Diabetes und damit oft keine Kenntnisse über diese Erkrankung. Deshalb sind viele Familien nur unzureichend oder gar nicht mit den Symptomen beim Ausbruch der Stoffwechselerkrankung vertraut. Obwohl es vermehrt Bemühungen zur Aufklärung der Bevölkerung über die wichtigsten Symptome des Typ-1-Diabetes gibt, wird Typ-1-Diabetes bei mehr als einem Drittel aller Betroffenen zu spät entdeckt, d.h. zu einem Zeitpunkt, an dem bereits schwerwiegende Störungen in der Regulation des Glukosestoffwechsels mit einer potentiell lebensbedrohlichen Übersäuerung des Bluts, der diabetischen Ketoazidose, aufgetreten sind.
Typ-1-Diabetes kann in jedem Lebensalter auftreten, am häufigsten bricht die Erkrankung während der Pubertät aus.
Prof. Hummel: In den letzten Jahren wurden große Fortschritte in der Erforschung des Autoimmunprozesses erzielt, der der klinischen Diagnose des Typ-1-Diabetes vorangeht. So wurde die Erkenntnis gewonnen, dass die Erkrankung Typ-1-Diabetes lange beginnt, bevor Symptome auftreten und dass der Prozess der Krankheitsentstehung durch die Messung von Insel-Autoantikörpern im Blut frühzeitig erkannt werden kann. Durch die Früherkennung des Typ-1-Diabetes kann die Rate der Kinder mit einer potenziell lebensbedrohlichen Ketoazidose bei klinischer Manifestation des Typ-1-Diabetes, die langfristige Folgen für die Gehirnentwicklung haben kann, drastisch reduziert werden. Darüber hinaus zeigte eine aktuelle Auswertung der Fr1da-Studie, eine Studie zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes in Bayern, eine bessere metabolische Kontrolle und einen kürzeren Krankenhausaufenthalt bei Kindern mit einer frühzeitigen Diagnose. Kinder, deren Typ-1-Diabetes Diagnose rechtzeitig und ohne wesentliche Stoffwechselentgleisung gestellt wird, haben zudem eine höhere Insulin-Restsekretion durch eine verbesserte Restfunktion der insulinproduzierenden Betazellen. Viele Studien zeigen, dass die Kinder dadurch eine deutlich verbesserte langfristige Prognose hinsichtlich möglicher diabetischer Folgeschäden haben.
Prof. Hummel: Die in den letzten Jahren erzielten Forschungsergebnisse führten zur Entwicklung eines Modells, welches das kontinuierliche Fortschreiten der Erkrankung in drei Stadien einteilt: Stadium 1 ist gekennzeichnet durch das Auftreten von zwei oder mehr Insel-Autoantikörpern. Die Blutglukose-Werte liegen jedoch in diesem Früh-Stadium noch im Normbereich. In Stadium 2 ist der Autoimmunprozess weiter fortgeschritten und neben dem Vorhandensein multipler Insel-Autoantikörper sind erste Anzeichen eines gestörten Blutglukosestoffwechsels erkennbar. Und Stadium 3 umfasst die klinische Manifestation des Typ-1-Diabetes.
Wenn kein Screening zur Früherkennung durchgeführt wird, wird Typ-1-Diabetes in der Regel erst nach dem Auftreten von Symptomen im Stadium 3 diagnostiziert. Bei Verdacht auf Typ-1-Diabetes prüft der behandelnde Arzt dann den Blutglukosespiegel. Liegt der gemessene Blutglukosewert ≥200 mg/dl oder der Nüchtern-Blutglukosewert ≥126 mg/dl, wird die klinische Diagnose Typ-1-Diabetes gestellt. Auch bei einem HbA1c Wert ≥6,5%, der Aufschluss über die Blutglukosewerte der vergangenen 2 bis 3 Monate gibt, wird die Diagnose Stadium 3 Typ-1-Diabetes gestellt.
Durch ein Screening-Programm können Kinder bereits im Frühstadium diagnostiziert werden. Eine aktuelle Analyse der Fr1da-Studie zeigte, dass nur 2,5% der Kinder, bei denen im Rahmen des Inselautoantikörper-Screenings ein Typ-1-Diabetes-Frühstadium diagnostiziert wurde, zum Zeitpunkt der klinischen Manifestation des Typ-1-Diabetes eine Ketoazidose aufwiesen. Diese Rate ist deutlich niedriger als die Durchschnittszahlen für Ketoazidose bei Krankheitsmanifestation bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die seit vielen Jahren bei über 20% lagen und während der Covid19-Pandemie zeitweise auf über 40% angestiegen sind. Es gibt eindeutige Hinweise aus der Forschung, dass die Vermeidung einer Ketoazidose bei Diabetesmanifestation langfristig das Auftreten von diabetischen Folgeerkrankungen, kardiovaskulären Erkrankungen und kognitiven und neurologischen Defiziten verringern kann. All das sind gute Gründe, die für ein allgemeines Screening sprechen.
Wenn kein Screening zur Früherkennung durchgeführt wird, wird Typ-1-Diabetes in der Regel erst nach dem Auftreten von Symptomen im Stadium 3 diagnostiziert.
Prof. Hummel: Ein Screening zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes erfolgt aktuell nur im Rahmen von Studien. Seit 2015 wird Kindern in Bayern die Teilnahme an der Fr1da-Studie, dem weltweit größten Screeningprogramm zur Früherkennung des Typ-1-Diabetes, angeboten. Die Fr1da-Studie erfolgt in Zusammenarbeit mit Kinderarztpraxen und pädiatrischen Diabeteseinrichtungen und bietet Kindern in Bayern im Alter zwischen 2 und 10 Jahren ein kostenloses und freiwilliges Screening auf Inselautoantikörper im Blut an. Das Screening erfolgt dabei in der Regel im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung (U7 bis U11).
Seit Anfang 2022 wird der Früherkennungstest auch für Kinder in Niedersachsen und Hamburg („Fr1da im Norden“, Leitung: Kinderkrankenhaus Auf der Bult, Hannover) sowie in Sachsen („Fr1da in Sachsen“, Leitung: Zentrum für Regenerative Therapien, TU Dresden) kostenlos angeboten (Informationen unter www.fr1da.de).
Aus langjährigen Beobachtungsstudien konnte abgeleitet werden, dass ein zweimaliges Screening den besten Vorhersagewert hat, wenn es im Alter von 2 und 6 Jahren durchgeführt wird. Für ein einmaliges Screening ist im Alter von 4 Jahren der Vorhersagewert am höchsten. Ein wichtiger Bestandteil des Screeningprogrammes ist die Aufklärung der Familie und die Freiwilligkeit der Teilnahme. Neben der Aufklärung der Eltern über die Vorteile der Früherkennung des Typ-1-Diabetes, müssen diese auch über mögliche Risiken informiert werden. Dazu gehört eine mögliche psychische Belastung der Familie durch die frühe Diagnose einer chronischen Erkrankung.
Wir konnten jedoch im Rahmen der Fr1da-Studie beobachten, dass die psychische Belastung der Eltern bei einer Diagnose eines Typ-1-Diabetes-Frühstadiums durch Screening deutlich geringer war als bei Eltern, deren Kind die klinische Diagnose Typ-1-Diabetes ohne vorausgegangene Früherkennung erhielt.
Teil des Screenings ist auch, dass Kinder und Jugendliche, bei denen ein Frühstadium des Typ-1-Diabetes (Stadium 1) diagnostiziert wird, zusätzlich zur Versorgung durch den betreuenden Kinderarzt, in spezialisierten Diabeteseinrichtungen mitbehandelt werden. Dabei ist es wichtig, dass die Kinder und deren Familien eine Schulung, eine qualifizierte Aufklärung, eine Beratung zum Umgang mit dem Wissen rund um den Diabetes und ein regelmäßiges Stoffwechsel-Monitoring als Bestandteile der frühen Behandlung erhalten.
Prof. Hummel: Die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Befunde, also des Befundes „Frühstadium Typ-1-Diabetes (oder Stadium 1)“, obwohl dieses gar nicht vorliegt, ist unter Verwendung der geeigneten Screeningstrategie nahezu null. Diese sieht vor, dass vier Inselautoantikörper mit zwei unterschiedlichen Methoden in zwei zeitversetzten Blutproben untersucht werden sollen, um die Diagnose „Frühstadium Typ-1-Diabetes“ zu stellen. Aus bisherigen Studien ist bekannt, dass nahezu alle Kinder mit einem positiven Testergebnis im Screening innerhalb von 20 Jahren einen klinisch-manifesten Typ-1-Diabetes entwickeln, die Wahrscheinlichkeit für die Zurückbildung von multiplen Inselautoantikörpern liegt bei <1%.
Prof. Hummer: Typ-1-Diabetes ist eine komplexe Erkrankung, die aus den Wirkungen und Wechselwirkungen von genetischen und umweltbedingten Faktoren resultiert. Der Beitrag genetischer Faktoren zum Typ-1-Diabetes-Risiko wird auf etwa 50% geschätzt. Neben genetischen Faktoren spielen Umweltfaktoren eine wichtige Rolle in der Entstehung von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes. Übereinstimmende Ergebnisse aus mehreren Geburtskohorten-Studien weisen auf eine Beteiligung unterschiedler Umweltfaktoren in der Pathogenese des Typ-1-Diabetes hin. Dazu gehören insbesondere frühe virale Infektionen, beschleunigtes Wachstum/Übergewicht und die Darm-Dysbiose.
Typ-1-Diabetes ist eine komplexe Erkrankung, die aus den Wirkungen und Wechselwirkungen von genetischen und umweltbedingten Faktoren resultiert.
Prof. Hummel: Derzeit steht keine Behandlung zur Verfügung, um die Entstehung des Typ-1-Diabetes vollständig zu verhindern. Durch die Teilnahme an Früherkennungsprogrammen haben die Eltern jedoch die Möglichkeit, frühzeitig zu erkennen, ob ihr Kind ein erhöhtes Risiko für Typ-1-Diabetes oder bereits ein Frühstadium aufweist. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, um den Kindern den Zugang zu präventiven Therapien zu ermöglichen, die für Kinder in Deutschland derzeit im Studienkontext angeboten werden (https://www.gppad.org/de/).
In den USA wurde vergangenes Jahr Teplizumab als erster Wirkstoff zur Verzögerung der klinischen Manifestation bei Kindern (ab 8 Jahren) mit einem Frühstadium Typ-1-Diabetes zugelassen. Um dieses Medikament wirksam einsetzen zu können, ist das Screening zur Früherkennung essentiell.
Eine Beteiligung von Ernährungsfaktoren am Autoimmunprozess wird seit langem diskutiert, ein eindeutiger Zusammenhang zwischen einzelnen Nahrungskomponenten und der Entstehung von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes konnte jedoch bislang nicht nachgewiesen werden. Denkbar wäre, dass die Auswirkungen der Ernährung über das Darmmikrobiom oder frühkindliche Wachstumsmuster vermittelt werden. Sowohl eine Darm-Dysbiose als auch ein beschleunigtes Wachstum bzw. Übergewicht im frühen Kindesalter wurden mit der Entstehung von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes in Verbindung gebracht.
Prof. Hummel: Kinder, die die klinische Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten, müssen lebenslang mit Insulin behandelt werden. Die Behandlungsmöglichkeiten von Typ-1-Diabetes haben sich zwar in den letzten Jahren durch den Einsatz von Insulinpumpen, kontinuierlicher Glukosemessung und automated insulin delivery (AID) Systemen deutlich verbessert, dennoch treten häufig akute Entgleisungen des Stoffwechsels wie Hypo- oder Hyperglykämien auf. Die Güte der Stoffwechseleinstellung ist für die langfristige Prognose der Kinder hinsichtlich der Entwicklung von diabetischen Folgeerkrankungen von großer Bedeutung. Ergebnisse aus großen internationalen Studien weisen daraufhin, dass die durch Früherkennung ermöglichte Erhaltung eigener Insulinsekretion in Kombination mit dem Einsatz von neuen Therapieverfahren Kindern mit Typ-1-Diabetes helfen wird, langfristig eine verbesserte metabolische Kontrolle zu erreichen.
Prof. Hummel: Die Lebenserwartung von Menschen mit Typ-1-Diabetes haben sich in den letzten 30 Jahren deutlich verbessert, dennoch ist diese um 11-13 Jahre geringer als in der Allgemeinbevölkerung. Insbesondere Kinder, die vor dem 10. Lebensjahr die klinische Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten, sind von einer verringerten Lebenserwartung betroffen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass eine Verzögerung der klinischen Diagnose Typ-1-Diabetes potentiell dazu beiträgt, die Lebenserwartung der Menschen zu verbessern.
Die Lebenserwartung von Menschen mit Typ-1-Diabetes haben sich in den letzten 30 Jahren deutlich verbessert, dennoch ist diese um 11-13 Jahre geringer als in der Allgemeinbevölkerung.
Prof. Hummel: Zum ersten Mal steht mit Teplizumab ein Medikament zu Verfügung, das bereits im Frühstadium der Erkrankung wirksam ist. Teplizumab ist ein monoklonaler anti-CD3-Antikörper, der sich gegen aktivierte T-Lymphozyten richtet, die den Oberflächenmarker CD3 aufweisen. Dadurch werden auch jene autoreaktive T-Zellen supprimiert, die sich gegen die Insulin-produzierenden Betazellen richten. Bei Personen mit Frühstadium 2 (zwei oder mehr Inselautoantikörper und erste Anzeichen eines gestörten Glukosestoffwechsels) konnte durch einen 14-tägigen Therapiezyklus mit Teplizumab die klinische Manifestation des Typ-1-Diabetes um durchschnittlich drei Jahre verzögert und die Insulinrestsekretion erhalten werden.
Schwere Nebenwirkungen sind bislang durch die Immuntherapie nicht aufgetreten. Zu den häufigsten Nebenwirkungen des Wirkstoffes, die vorübergehend während der Behandlungsphasen auftraten, gehörten eine transiente Lymphozytopenie, Hautausschlag und Kopfschmerzen. Derzeit ist eine Behandlung mit Teplizumab in den USA für Kinder ab 8 Jahren zugelassen, eine Zulassung wird auch für Europa gefordert. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist, dass Kinder, die die Behandlung benötigen, rechtzeitig über Screeningprogramme entdeckt werden.
Die Verzögerung der klinischen Manifestation ist mit einigen Vorteilen verbunden. Neben dem Erhalt der Insulinrestsekretion und der damit verbundenen langfristigen verbesserten Prognose wird die Diagnose Typ-1-Diabetes in Lebensphasen verschoben, in denen das Diabetesmanagement erfahrungsgemäß leichter fällt. Zusammenfassend stellt die Zulassung von Teplizumab in den USA einen wichtigen Durchbruch in der Behandlung des Typ-1-Diabetes dar.
Prof. Hummel: Die klinische Diagnose Typ-1-Diabetes verändert nicht nur das Leben der Kinder, sondern auch das der Familienangehörigen, insbesondere der Eltern. Kinder mit Typ-1-Diabetes müssen dauerhaft darauf achten, den Blutzucker im Normbereich zu halten, und tagtäglich Faktoren bedenken, die den Blutzucker beeinflussen können. Dazu zählen vor allem die Ernährung und körperliche Bewegung. Aber auch Infekte oder Stress können sich auf den Blutzuckerspiegel im Alltag auswirken. Wichtig ist es, diese Faktoren zu kennen und zu lernen, die Insulin-Therapie entsprechend anzupassen.
Prof. Hummel: Ein Fokus unserer aktuellen Forschung liegt in der Primärprävention des Typ-1-Diabetes. Um dies umzusetzen, wurde Ende 2017 die „Globale Plattform zur Prävention von Autoimmun-Diabetes (GPPAD)“ ins Leben gerufen. GPPAD ermöglicht, Kinder mit erhöhtem genetischem Risiko für Inselautoimmunität noch vor Auftreten von Insel-Autoantikörpern zu identifizieren und diesen Kindern Präventionsmaßnahmen im Studienkontext anzubieten. Ziel dieser Studien ist, das Auftreten von Inselautoimmunität und Typ-1-Diabetes bei Kindern zu verringern. Einen Meilenstein in der Therapie haben wir durch die Zulassung von Teplizumab in den USA bereits erreicht - zur Wirksamkeit solcher Therapien müssen flächendeckend Strukturen geschaffen werden, die eine Früherkennung des Typ-1-Diabetes ermöglichen.
Einen Meilenstein in der Therapie haben wir durch die Zulassung von Teplizumab in den USA bereits erreicht(...)
Danke für das Interview!
aktualisiert am 31.10.2023