Kreidezähne sind eine Störung, von der viele Eltern noch nie gehört haben. Dabei ist das Phänomen, unter Zahnärzten als Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation bekannt, schon lange kein Problem einzelner Kinder mehr. In einer auf Hamburg begrenzten Studie der Poliklinik für Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde des UKE wurde bei 14 Prozent der untersuchten Kinder MIH – so die Kurzform – diagnostiziert. Dabei gibt die Erkrankung der Medizin einige Rätsel auf. Weder ist klar, was die Erkrankung genau verursacht, noch welche Risikofaktoren im Detail die Entstehung der Kreidezähne bei einigen Kindern verursachen. Schuld an dieser Situation ist die Tatsache, dass MIH als Erkrankung erst in den 1980er Jahren in Erscheinung getreten ist. Bei der MIH kommt es zu Defekten am Zahnschmelz, die weitere Schäden der betroffenen Zähne nach sich ziehen können.
MIH (Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation) ist eine Erkrankung, welche in die Rubrik der Entwicklungsstörungen fällt. Das bedeutet: Die natürliche Bildung der Zähne wird gestört. Betreffen kann die Krankheit sowohl die Backenzähne (Molaren) als auch die Schneidezähne (Inzisiven). Zahnärzte beobachten, dass innerhalb eines Gebisses starke Unterschiede auftreten können.
In den letzten Jahren hat sich eine absteigende Abfolge der betroffenen Zähne beobachten lassen:
Aus der möglichen Beteiligung von Backen- und Schneidezähnen erschließt sich die Namensgebung Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Der Begriff Hypomineralisation ist ein Hinweis darauf, was die beobachteten Effekte nach sich zieht: Bei Patienten kommt es zu einer fehlerhaften Mineralisation des Zahnschmelzes. Letzterer ist die äußere Schicht der Zähne und gehört zu den härtesten biologischen Materialien. Er umschließt das Dentin, durch welches die Zahnwurzel verläuft. Zahnschmelz trägt wesentlich zur Funktion der Zähne bei und hat einen Schutzeffekt für darunterliegende Schichten. Entwicklungsstörungen der Mineralisation haben damit erhebliche Auswirkungen.
Bei der Ursache für die Entstehung der Kreidezähne tappt die Medizin nach aktuellem Wissensstand im Dunkeln. Diese Erkenntnis ist weder für Eltern noch behandelnde Zahnärzte zufriedenstellend. Einige Zahnärzte stellen inzwischen sogar die Frage, ob Kreidezähne wirklich ein neues Phänomen sind – oder bis vor einigen Jahren schlicht von Zahnerkrankungen wie Karies überlagert wurden.
Fakt ist allerdings der Anstieg bei den Diagnosen. Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen geht die Zahnheilkunde davon aus, dass die Hypomineralisation vor dem Durchbrechen der Zähne passiert. Damit kommt als relevanter Zeitraum die Phase kurz vor der Geburt (8. Schwangerschaftsmonat) bis etwa zum 4. Lebensjahr in Frage. In diesem Zeitraum bildet der Körper Zahnschmelz. Verantwortlich für dessen Bildung sind spezielle Zellen, die Ameloblasten. Von diesen Zellen werden Proteine gebildet, welche wiederum Mineralsalze einlagern und so die harte Aufbausubstanz Hydroxylapatit bilden.
Ärzte gehen heute davon aus, dass mehrere Faktoren zum Entstehen des Mineralisationsdefekts führen, wie:
Diskutiert wird zudem der Einfluss, den eine hohe Krankheitsrate in der frühkindlichen Phase haben kann. Hier werden unter anderem genannt:
Die Rate, mit der MIH auftritt, scheint nicht nur in Deutschland zwischen 10 Prozent bis 15 Prozent zu liegen (laut Deutscher Gesellschaft für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde). Untersuchungen in Asien haben eine ähnliche Inzidenz (Rate von Neuerkrankungen) ergeben [1]. In einigen Regionen liegt die Inzidenz mit knapp 20 Prozent [2] allerdings noch höher.
Bei MIH kommt es zu Defekten in der Mineralisation des Zahnschmelzes. Diese Hypomineralisation macht sich mit dem Durchbruch der bleibenden Zähne bemerkbar. Besonders die ersten Backenzähne (Sechsjahresmolaren) sind von MIH betroffen.
Erkennbar ist die fehlerhafte Struktur des Zahnschmelzes an einer abweichenden fleckigen Färbung. Diese reicht von creme-weiß bis gelblich-braun. Die Intensität lässt Rückschlüsse auf den Schweregrad zu. Solche Fehlstellen bezeichnet die Zahnmedizin als Hypoplasie. Der Umfang, den diese Veränderungen am Zahn haben, wird in drei Schweregrade eingeteilt:
Ab Grad II besteht eine Empfindlichkeit der Zähne gegenüber Temperaturreizen oder mechanischen Belastungen. Parallel steigt das Risiko für Abplatzungen von Zahnschmelz (Schmelzfrakturen). In Grad III sind solche Schmelzausbrüche sogar schon vor dem Durchbruch der Zähne zu beobachten.
Grund ist, dass hie Hypomineralisation zu strukturellen Schwachstellen im Zahnschmelz führt. Dieser wird nicht einfach nur farblich verändert. Es weichen Mineralgehalt, Porosität und Härte vom gesunden Zahnschmelz ab. Hierdurch zeigt der Schmelz bei MIH eine geringere Widerstandsfähigkeit gegenüber der Kaubelastung. Im Ergebnis kann Zahnschmelz beim Kauen abbrechen.
Im Überblick zeigen sich diese Symptome für Kreidezähne:
Hinsichtlich der Diagnose müssen Zahnärzte Kreidezähne von anderen Schmelzdefekten abgrenzen. Aufgrund der Tatsache, dass MIH erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit deutlich in Erscheinung tritt, fehlt es derzeit noch an breit angelegten klinischen Studien. Kriterien zur Diagnose der Kreidezähne werden unter anderem von der European Academy of Paediatric Dentistry (2003) empfohlen. Zu den hier genannten Diagnosekriterien zählen:
Um die Diagnose zu stellen, gilt es das richtige Alter abzuwarten. Auf der einen Seite ist so lange zu warten, bis die vier Backenzähne und die Schneidezähne erfolgreich in die Mundhöhle durchgebrochen sind. Auf der anderen Seite kann ein zu langes Abwarten die Beurteilung der Kreidezähne erschweren. Zähne mit Schmelzdefekten sind nämlich anfälliger für Karies. Die Karies sowie zahnfarbene Füllungen können im weiteren Verlauf eine MIH überdecken.
Farbveränderungen an der Zahnhartsubstanz und Schmelzeinbrüche sind zwar typisch für MIH, im Alltag eines Zahnarztes sind solche Merkmale allerdings nicht einzigartig. Es gibt unterschiedliche Diagnosen mit einem ähnlichen klinischen Bild. Aufgrund dieser Tatsache muss jeder Zahnarzt andere Diagnosen ausschließen. Dazu gehören die folgenden Krankheitsbilder.
Eine Unterentwicklung des Zahnschmelzes, die genetisch bedingt ist. Ein Häufigkeitsgipfel kommt bei Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom (einer erblichen Störung) vor. Betroffen von der Erkrankung sind alle Zähne im menschlichen Gebiss. Ursache ist eine Störung der für die Mineralsalzbildung zuständigen Proteine. Zu erkennen ist Amelogenesis imperfecta an den gelb-braunen bis grau-braunen Verfärbungen.
Substanzdefekte durch Karies beruhen auf äußeren Faktoren, welche auf die Zähne einwirken. Ausschlaggebend sind Demineralisierungen, welche optisch mit den Verfärbungen bei MIH verwechselt werden können. Unterscheiden lassen sich Karies und Kreidezähne durch das Abtasten mit der Sonde.
Hierbei handelt es sich um einen Zahndefekt, der sich über einen unterentwickelten Zahnschmelz äußert. Betroffen kann aber auch die Zahnwurzel sein. Ursache der Turner-Zähne sind häufig Schäden am Milchzahn. So kann Milchzahn-Karies zu einer Entzündung und einem Eiterherd führen. Möglicherweise ist aber auch eine Zahnverletzung (Zahntrauma) eine Ursache.
Für die Mineralisierung des Zahnschmelzes ist eine Versorgung mit Mineralstoffen entscheidend. Hydroxylapatit als Endprodukt der Zahnbildung enthält Calcium und Phosphate/Phosphor. Ist die Versorgung mit den erforderlichen Mineralstoffen gestört, hat dies Auswirkungen auf die Zahnentwicklung. Ursachen können äußere Faktoren wie eine Mangelernährung sein. Aber auch krankhafte Stoffwechselstörungen oder Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts kommen als Auslöser in Frage.
Fluor wird heute sowohl therapeutisch als auch vorbeugend in der Zahnheilkunde eingesetzt. Die Devise „viel hilft viel“ ist allerdings kontraproduktiv. Bei einem Überschuss an Fluor kann sich eine Störung der Zähne entwickeln. Diese Dentalfluorose äußert sich durch Verfärbungen und Opazitäten (milchig erscheinende Flächen). Bei sehr schweren Formen kann zudem die mechanische Belastbarkeit des Zahnschmelzes darunter leiden.
Die erfolgreiche Behandlung der Ursache mit dem Ziel, die Symptome und Krankheitszeichen vollständig zurückzubilden, ist zum aktuellen Zeitpunkt bei Kreidezähnen nicht möglich. Grund ist die noch unklare Sachlage bezüglich der Ursachen. Die Zahnmedizin geht heute davon aus, dass Faktoren von außen die Zahnschmelzbildung (Amelogenese) stören. Diskutiert wird unter anderem der Einfluss bestimmter Arzneimittelwirkstoffe, zu denen verschiedene antibiotisch wirkende Substanzen gehören. Aber auch Bisphenol A (kurz BPA) wird als möglicher Einflussfaktor in verschiedenen Quellen erwähnt [3]. Solange die Ursachen nicht restlos geklärt sind, sind die Heilungschancen gering. Die Zahnheilkunde hat dennoch inzwischen Möglichkeiten, um Patienten mit MIH zu helfen.
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation schädigt in erster Linie den Zahnschmelz. Probleme entstehen zuerst durch die Berührungs- und Temperaturempfindlichkeit betroffener Zähne. Schmerzen können schon beim Zähneputzen auftreten, was eine angemessene Zahnpflege erheblich erschweren kann.
Gleichzeitig ist durch den Mineralisationsdefekt der Zahn schon von Grund auf empfindlicher und empfänglicher für Karies. Beides zusammen ist eine schwierige Kombination. Für die Behandlung ist das individuelle Krankheitsbild entscheidend.
Leichte Formen der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation ohne Zahnschmelzeinbrüche und Abplatzer lassen sich mit einer Fissurenversiegelung (Versiegelung der Vertiefungen des Zahns durch eine Schutzschicht) sowie dem Auftragen von Fluoridlack behandeln. Der Fluoridlack wird in hoher Konzentration empfohlen. Notwendig ist hier in erster Linie eine engmaschige Betreuung durch den Zahnarzt mit Terminen im Abstand zwischen drei Monaten bis sechs Monaten.
Sobald sich schwerwiegende Formen von MIH mit Substanzverlusten zeigen, sind Füllungen oder Überkronungen das Mittel der Wahl. Sofern Zähne sehr stark in Mitleidenschaft gezogen werden, ist deren Entfernung (Extraktion, Zahnziehen) eine Option – mit anschließendem kieferorthopädischem Lückenschluss. Ob der Eingriff unter Lokalanästhesie oder unter Vollnarkose stattfindet, hängt von individuellen Rahmenbedingungen ab.
Vor dem Hintergrund der Schmerzempfindlichkeit von MIH-Zähnen stellt die Behandlung eine besondere Herausforderung dar. Unter der Behandlung ist eine Reizung der betroffenen Zähne durch den Zahnarzt zu vermeiden. Dies betrifft unter anderem dem Einsatz des Luftpusters.
Berechtigterweise stellt sich die Frage nach einer Prophylaxe, um die Entstehung der MIH zu verhindern. In diesem Zusammenhang ist der aktuelle Stand der Forschung – und damit die Reichweite der Prophylaxe – noch nicht ausreichend. Solange die Zahnheilkunde Ursachen sowie Risikofaktoren nicht identifizieren kann, lassen sich vorbeugende Maßnahmen nicht empfehlen. Sowohl für die Prophylaxe als auch eine ursächliche Therapie von MIH müssen weitere Studien und Forschungen abgewartet werden.
[1] Int J Paediatr Dent. 2015 Mar;25(2):73-8. doi: 10.1111/ipd.12100. Epub 2014 Mar 7. Prevalence of molar incisor hypomineralization (MIH) in Singaporean children. Ng JJ, Eu OC, Nair R, Hong CH.
[2] Int J Paediatr Dent. 2010 Nov;20(6):426-34. doi: 10.1111/j.1365-263X.2010.01097.x. Epub 2010 Aug 24. Molar incisor hypomineralization: prevalence, severity and clinical consequences in Brazilian children. da Costa-Silva CM, Jeremias F, de Souza JF, Cordeiro Rde C, Santos-Pinto L, Zuanon AC.
[3] Am J Pathol. 2013 Jul;183(1):108-18. doi: 10.1016/j.ajpath.2013.04.004. Epub 2013 Jun 10. Enamel defects reflect perinatal exposure to bisphenol A. Jedeon K, De la Dure-Molla M, Brookes SJ, Loiodice S, Marciano C, Kirkham J, Canivenc-Lavier MC, Boudalia S, Bergès R, Harada H, Berdal A, Babajko S.
aktualisiert am 16.11.2023