Chronischer Stress kann langfristig zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führen, wie Verdauungsstörungen, chronischen Schmerzen, Autoimmunerkrankungen oder Burnout. Im Gehirnverändert Stress die Aktivität wichtiger Bereiche wie des präfrontalen Cortex, der Amygdala und des Hippocampus, was zu Reizbarkeit, Impulsivität und anhaltender Anspannung führen kann. Persönliche Stressmuster und alte Glaubenssätze - wie Perfektionismus oder das Bedürfnis, es allen recht zu machen - spielen dabei eine wichtige Rolle. Langfristig wirksam sind nicht schnelle Lösungen, sondern ein tieferes Verständnis der eigenen Stressursachen, unterstützt durch Meditation, Atemtechniken, Biografiearbeit und das bewusste Setzen von Grenzen.
Marbod Kindermann: Für mich ist das Thema Stress vor etwa zehn Jahren sehr präsent geworden. Eigentlich war ich immer der Meinung, dass ich kein besonders gestresster Mensch bin. Ich hatte das Gefühl, alles gut im Griff zu haben. Doch mit der Zeit merkte ich, dass der Druck in meiner Arbeitswelt immer größer wurde - und dass ich irgendwann nicht mehr richtig damit umgehen konnte. Früher konnte ich mich nach stressigen Phasen gut entspannen und die Freude am Alltag aufrechterhalten. Doch plötzlich war das nicht mehr möglich. Und da habe ich angefangen, mich intensiv mit der Frage zu beschäftigen: Was kann ich an mir ändern? Was ist eigentlich Stress?
Ich wollte verstehen, welche Techniken mir helfen können - und wie ich es wieder schaffe, nach der Arbeit wirklich in der Freizeit anzukommen, statt gedanklich ständig bei der Arbeit zu sein und in endlosen Gedankenschleifen zu hängen. Ich habe dann einen Vortrag von einem Mönch über Meditation gesehen. Ich war sofort fasziniert von dem, was er darüber erzählt hat - über die Vorgänge im Gehirn, über die Veränderungen, die Meditation im Leben bewirken kann. Ich war sofort begeistert und habe beschlossen: Ich will regelmäßig meditieren. Am Anfang hatte ich allerdings keine Ahnung, wie das gehen soll - was man da genau macht, wie man mit den Gedanken umgeht, die dabei aufkommen. Ich war erst einmal ziemlich verwirrt und habe angefangen, mich tiefer in das Thema einzuarbeiten.
Dabei bin ich auf das "Institute for Neuromeditation" in den USA gestoßen - ein wissenschaftlich fundierter Zugang zur Meditation, der mir sehr geholfen hat. Dadurch konnte ich besser verstehen, was in den verschiedenen Formen der Meditation passiert - und warum mir manche Formen besser halfen als andere, die sich irgendwie nicht stimmig anfühlten. Das war die eine Richtung, die ich einschlug. Die andere war, mit Coaches zu arbeiten. Ich wollte der Sache wirklich auf den Grund gehen: Was genau löst diesen Druck in mir aus? Warum wurde das immer schlimmer, je mehr Verantwortung ich hatte? Und warum habe ich so perfektionistische Tendenzen entwickelt?
Denn das war schon lange ein Thema bei mir: Ich habe viel Zeit in Aufgaben investiert, wollte keine Fehler machen - und hatte große Angst davor, negativ wahrgenommen zu werden. Also habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen, was in mir diesen Druck erzeugt - warum ich mir Dinge so zu Herzen nehme und wovor ich wirklich Angst habe.
Marbod Kindermann: Ich glaube, das ist eine Frage, die auch die Wissenschaft bis heute versucht zu beantworten. Was ich aber bei den Menschen sehe, die ich begleite, ist, dass der Körper über einen längeren Zeitraum sehr direkt auf Stress reagiert. Kurzfristiger Stress ist für den Körper völlig normal - so ist er auch konzipiert - und hat keine langfristigen Folgen. Problematisch wird es, wenn wir diesen Stresszustand über Jahre hinweg als "normal" empfinden. Dann merken viele Menschen irgendwann: Okay, da verändert sich tatsächlich etwas. Sei es die Verdauung, die plötzlich nicht mehr richtig funktioniert, oder Schmerzen, die hinzukommen - zum Beispiel chronische Kopfschmerzen oder Tinnitus.
Ich sehe auch eine deutliche Häufung von Autoimmunerkrankungen. Natürlich stellt sich dann immer die Frage, inwieweit man wirklich einen kausalen Zusammenhang herstellen kann - also ob eine Erkrankung tatsächlich auf Stress zurückzuführen ist. Und genau dazu gibt es immer mehr neue Forschungsfelder. Sie beschäftigen sich mit der Frage: Wie kann der Stress, den ich mir selbst mache, mein System beeinflussen - also das Immunsystem, die Organe und auch all die Symptome, die wir an anderen Stellen im Körper wahrnehmen?
Kurzfristiger Stress ist für den Körper völlig normal - so ist er auch konzipiert - und hat keine langfristigen Folgen.
Marbod Kindermann: Wenn wir wirklich unter Stress stehen, dann bleibt kein Organ, keine Zelle im Körper unberührt - alles bekommt es mit. Wir haben eine natürliche Stressreaktion. Für unsere Vorfahren war das ein echter Überlebensvorteil. Es war entscheidend, in kürzester Zeit extrem viel Energie mobilisieren zu können. Konkret heißt das: Wenn unsere steinzeitlichen Vorfahren plötzlich einer Gefahr ausgesetzt waren - sie zum Beispiel vor einem wilden Tier fliehen mussten - dann musste der Körper sofort reagieren. Die Muskeln mussten hart arbeiten, Zucker wurde bereitgestellt, das Herz schlug schneller, der Blutdruck stieg. Gleichzeitig wurden Prozesse heruntergefahren, die in diesem Moment nicht überlebenswichtig waren - zum Beispiel alles, was mit Fortpflanzung oder Verdauung zu tun hatte. Diese Systeme verbrauchen Energie, die in einer akuten Gefahrensituation anderswo gebraucht wird.
Das heißt, einige Organe und Systeme werden heruntergefahren, während andere - zum Beispiel das Herz - auf Hochtouren arbeiten müssen. In einer kurzfristigen Stresssituation ist das ein klarer Vorteil. Wenn dieses System aber dauerhaft aktiv bleibt und dabei wichtige Dinge wie die Verdauung oder das Immunsystem vernachlässigt werden - also jene Prozesse, die Infektionen abwehren und die inneren Abläufe stabil halten sollen - dann hat das langfristig Folgen. Und diese Folgen machen sich irgendwann auch körperlich bemerkbar.
Marbod Kindermann: Unser Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, die jeweils bestimmte Aufgaben übernehmen und auf eine bestimmte Art und Weise funktionieren. Ein Beispiel ist der präfrontale Cortex. Er hilft uns, logisch zu denken, Aufgaben zu lösen und unseren Tag zu planen. Er hilft uns auch, Impulse zu kontrollieren - zum Beispiel zu sagen: "Nein, ich bleibe jetzt bei dieser einen Aufgabe!" - und nicht der Versuchung nachzugeben, zum Kühlschrank zu gehen und Schokolade zu essen. Dieser Teil des Gehirns hilft uns also, konzentriert und kontrolliert zu bleiben. Bei chronischem Stress sehen wir jedoch, dass die Aktivität im präfrontalen Kortex abnimmt. Das hat zur Folge, dass wir impulsiver werden. Es fällt uns schwerer, Impulse zu unterdrücken, zum Beispiel wenn es um Essen oder Ablenkung geht. Gleichzeitig sind wir reizbarer: Wenn jemand etwas sagt, das uns nicht passt, können wir überreagieren.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Amygdala - unser inneres Alarmsystem. Sie spielt eine zentrale Rolle bei der Wahrnehmung von Stress und Angst. Bei chronischem Stress wird die Amygdala immer aktiver. Das bedeutet: Unser inneres Alarmsystem ist "verstellt". Wir werden empfindlicher für negative Reize, reagieren ängstlicher und sind generell schneller im Stressmodus.
Dann gibt es noch den Hippocampus. Er reagiert besonders empfindlich auf das Stresshormon Cortisol, weil er spezielle Rezeptoren dafür besitzt. Der Hippocampus hilft uns eigentlich, Situationen einzuordnen und zu relativieren - zum Beispiel, wenn bei der Arbeit etwas schief läuft oder Kritik vom Chef kommt. Er hilft uns, uns selbst zu reflektieren und Abstand zu gewinnen. Aber auch hier gilt: Unter chronischem Stress lässt seine Aktivität nach.
Insgesamt zeigt sich also, dass verschiedene Hirnareale - mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben - durch chronischen Stress aus dem Gleichgewicht geraten. Das kann dazu führen, dass wir in eine regelrechte Stressspirale geraten. Viele Menschen kommen aus dieser Spirale nicht mehr richtig heraus. Sie sind dauerhaft im Stress gefangen und wissen oft nicht genau warum. Warum schaffe ich es heute nicht mehr wie vor fünf Jahren, nach der Arbeit einfach nach Hause zu fahren, abzuschalten und das Wochenende zu genießen? Die Antwort liegt in den neuronalen Veränderungen, die durch chronischen Stress ausgelöst werden.
Marbod Kindermann: Ich glaube nicht, dass man das so pauschal beantworten kann. Es gibt einfach ein paar typische Anzeichen, die viele Menschen zumindest teilweise wahrnehmen. Für mich ist einer der wichtigsten Indikatoren sicherlich Schlaf. Mein Schlaf zeigt mir ziemlich zuverlässig, wie entspannt ich im Alltag bin - oder auch, wie viel unterschwelligen Stress ich in mir trage, den ich vielleicht gar nicht bewusst wahrnehme. Wenn ich zum Beispiel schlecht einschlafen kann oder nachts aufwache und merke: "Wow, ich bin richtig wach" - oder wenn ich deutlich früher aufwache als sonst und weiß, dass ich nicht mehr einschlafen werde - dann ist das für mich ein ganz klares Zeichen. In solchen Momenten weiß ich: Da ist mehr Stress in meinem System, als mir bewusst war. Und es ist an der Zeit, etwas dagegen zu tun. Denn daraus entwickelt sich schnell eine Spirale: Je schlechter ich schlafe, desto schlechter kann ich mich erholen - und desto mehr Stress habe ich dann auch tagsüber.
Ein weiterer Indikator ist mein Energielevel. Stress kann - zumindest kurzfristig - auch etwas Positives haben. Er kann motivieren und antreiben. Ein gewisses Maß an Stress ist sogar hilfreich, weil ich dadurch aktiv werde. Das richtige Maß an Stress motiviert mich also, Dinge zu verändern und weiterzumachen. Wenn ich aber merke, dass meine Energie dauerhaft nachlässt, ist das ein sehr deutliches Zeichen. Mein Körper sagt mir damit: Ich kann nicht ständig auf diesem hohen Energielevel bleiben - ich brauche auch Phasen der Erholung und des Herunterfahrens.
Kurz gesagt: Ein gewisses Maß an Stress ist in Ordnung - es ist sogar hilfreich. Aber wenn er chronisch wird, dann merke ich das an meinem Schlaf und an meinem Energielevel. Aber auch das empfindet jeder Mensch anders.
Marbod Kindermann: In Studien wird Stress auch hormonell gemessen, z.B. über den Cortisolspiegel. Eine einfachere Methode ist jedoch die Messung der Herzratenvariabilität (HRV). Unser Herz sollte beim Ein- und Ausatmen seine Schlagfrequenz verändern. Das heißt, die Herzfrequenz sollte variabel sein. Diese Variabilität ist ein Zeichen dafür, dass unser Nervensystem in der Lage ist, während der Atmung flexibel zwischen verschiedenen Zuständen - also zwischen Anspannung und Entspannung - zu wechseln. Genau aus diesem Grund wird die HRV häufig als Marker für die Balance des Nervensystems verwendet. Für beide Methoden gilt jedoch: Es handelt sich meist nur um Momentaufnahmen. Um wirklich aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, sind mehrere Messungen notwendig. Die HRV kann zum Beispiel auch kontinuierlich gemessen werden.
Manchmal kommen Leute zu mir und sagen: "Ich habe eine Analyse machen lassen und da stand, dass meine Stressachse überaktiv ist - aber ich fühle mich gar nicht gestresst." Dann frage ich mich natürlich, wie viel Gewicht ich dieser Messung beimesse. Denn wenn sich jemand glücklich fühlt und keinen Stress empfindet, dann würde ich mir keine Sorgen machen, nur weil irgendein Wert etwas anderes sagt. Solche Ergebnisse sind also immer mit Vorsicht zu genießen. Sie zeigen nur einen Ausschnitt. Am Ende zählt vor allem, was die Menschen selbst sagen - wie sie sich fühlen, was sie wahrnehmen und wie sie ihre Situation reflektieren. Daran kann ich in der Regel sehr gut erkennen, wie stark die Belastung tatsächlich ist.
Marbod Kindermann: Ja, das kann z.B. bei einem Trauma der Fall sein. Das Nervensystem steht dann oft unter enormem Stress. Da sind wir wieder bei der Amygdala, also dem Alarmsystem des Körpers, das in solchen Fällen oft "verstellt" ist. Ich sehe das auch sehr oft bei Menschen, die in ein Burnout geraten sind, die also nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen haben. Sie haben nicht erkannt, dass der Stress zu viel wird und haben nichts geändert. Stattdessen kam es irgendwann zum totalen Zusammenbruch. Das heißt, sie hatten plötzlich - oft von einem Tag auf den anderen - keine Energie mehr, um zur Arbeit zu gehen. Viele mussten sich dann für längere Zeit komplett zurückziehen.
Was ich dabei immer wieder beobachte: Auch wenn diese Menschen später versuchen, wieder ins Berufsleben einzusteigen, ist ihr Alarmsystem immer noch verstellt. Sie berichten dann zum Beispiel: "Es ist schon komisch - sobald ich mich entspanne, schießt mein Nervensystem plötzlich hoch und die Anspannung ist wieder da." Mein Eindruck ist dabei, dass irgendetwas im System, sei es die Amygdala oder ein anderer Teil des Nervensystems, in Alarmbereitschaft bleibt und die Betroffenen damit unbewusst ausbremst. Oft wollen die Betroffenen zurück in den alten Leistungsmodus - sie wollen wieder funktionieren wie früher. Doch der Körper lässt es nicht mehr zu. Es ist fast so, als wäre er skeptisch: Immer wenn sie in ihre Energie kommen, bremsen sie sofort wieder ab.
Das ist für mich wirklich ein klares Signal - als hätte der Körper selbst Angst, wieder in diesen alten Leistungsmodus zu kommen. Denn dort könnte wieder ein Zusammenbruch lauern. Es ist, als wolle sich der Körper schützen. Und ja, im Grunde ist ein Burnout genau das: ein Schutzmechanismus. Wenn ein Mensch immer nur Gas gibt, sich völlig aufopfert, alles in die Arbeit investiert, dann ist das ein Schutzmechanismus.
Oft wollen die Betroffenen zurück in den alten Leistungsmodus - sie wollen wieder funktionieren wie früher. Doch der Körper lässt es nicht mehr zu.
Marbod Kindermann: Cortisol ist ein ganz normales Hormon wie viele andere auch. Es reguliert bestimmte Funktionen im Körper, unter anderem unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. Deshalb ist es für mich ein guter Indikator: Wenn sich mein Schlaf verändert, wenn ich zu früh aufwache oder schlecht einschlafe, kann das ein Hinweis auf einen erhöhten Cortisolspiegel sein. Grundsätzlich brauchen wir Cortisol - es ist wichtig für die normale Regulation im Körper. Aber bei Menschen, die ständig auf Hochtouren leben, kann der Cortisolspiegel dauerhaft erhöht sein. Das hat mehrere Folgen: Zum einen verändert sich der Schlaf - man fühlt sich wacher und aufmerksamer und kann schlechter zur Ruhe kommen. Zum anderen beeinflusst Kortisol den Hippocampus, wie ich bereits erläutert habe. Außerdem wirkt es stark immunsuppressiv. Das heißt, der Körper versucht, Energie zu sparen, und das Immunsystem wird durch den hohen Cortisolspiegel herunterreguliert. Wir wissen, dass chronisch gestresste Menschen anfälliger für Infekte sind. Viele kennen das: Man hat viel Stress, fährt in den Urlaub - und am ersten oder zweiten Urlaubstag wird man plötzlich krank. Warum das so ist? Weil das Cortisol zuvor das Immunsystem unterdrückt hat. Sobald die Entspannung einsetzt und sich alles normalisiert, kann das Immunsystem wieder richtig arbeiten - und dann kommen die Erkältungssymptome.
Marbod Kindermann: Also, ich bin kein Fan davon, zu sagen: "Wir müssen jetzt dieses eine Ding regulieren" - oder "dieses eine Hormon runterdrücken." Stattdessen schaue ich mir wirklich an, was in deinem Leben passiert. Warum erlebst du diesen Stress? Ich weiß, dass wir oft nach "der einen Lösung" suchen - am liebsten vielleicht noch nach der Wunderpille, dem einen Medikament. Aber wenn Menschen unter großem Stress stehen, lohnt es sich immer, auf mehreren Ebenen anzusetzen. Ich habe eingangs schon gesagt: Meditation ist für mich ein wichtiges Werkzeug. Wenn man sie richtig einsetzt, kann man die neuronalen Veränderungen, die ich beschrieben habe, tatsächlich ein Stück weit rückgängig machen - und das Gehirn in eine andere Richtung trainieren.
Gleichzeitig ist es aber auch ganz wichtig, hinzuschauen: Woher kommen diese stressauslösenden Muster überhaupt? Bei mir war es so, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass Perfektionismus bei mir ein ganz großer Stressfaktor ist. Und ich bin ein großer Fan davon, wirklich nach der Ursache zu schauen. Was steckt dahinter? Wie kann ich die eigentliche Ursache ändern? Stattdessen höre ich oft: "Mein Schlaf ist schlecht - wie kann ich ihn optimieren?" oder "Mein Cortisolspiegel ist zu hoch - wie kann ich ihn senken?". Das ist eine typische Denkweise, die ich auch in der Medizin oft beobachte: sehr symptomorientiert. Jemand hat ständig Migräne - und die Frage ist, wie ich die Migräne unterdrücken kann. Aber selten wird wirklich gefragt: Was steckt dahinter? Was ist der Auslöser?
Marbod Kindermann: Interessanterweise gibt es tatsächlich Menschen, die ihre Gefühle nicht richtig kommunizieren können. Andere hingegen können sehr genau benennen, was sie fühlen - zum Beispiel: "Ich habe Angst vor einer Präsentation." oder: "In bestimmten Situationen fühle ich Scham oder Schuld". Diese Menschen sind oft in der Lage, genau zu benennen und zu spüren, was in ihnen vorgeht. Sie können besser einordnen, wie es ihnen im Beruf, im Freundeskreis oder in der Familie geht. Sie fühlen einfach mehr - und haben dadurch oft auch einen besseren Zugang zu dem, was sie belastet. Was ich aber auch oft erlebe - vor allem bei Menschen mit stark ausgeprägten Stressmustern - ist, dass sie irgendwann aufgehört haben, ihre Gefühle richtig zu spüren. Fast wie ein Schutzmechanismus. Sie haben den Zugang zu ihren Gefühlen abgeschnitten - nicht aus Faulheit, sondern aus Selbstschutz. Denn wer unangenehme Gefühle verdrängt, verliert leider oft auch den Zugang zu den angenehmen. Solche Menschen leben eher in einer Art emotionaler Neutralität. Vielleicht spüren sie noch eine diffuse Unzufriedenheit - ein Gefühl wie: "Irgendwie ist das alles noch nicht das Leben, das ich mir wünsche." An diesem Punkt braucht es oft Zeit, um herauszufinden: Was steckt eigentlich dahinter? Ist es Stress? Überforderung? Orientierungslosigkeit? Manche Menschen können das für sich ganz klar erkennen, andere nicht.
Das ist auch die Brücke zu dem, was wir vorhin besprochen haben: Wenn mir jemand sagt: "Ich habe meine Herzfrequenzvariabilität messen lassen, dabei ist herausgekommen, dass ich Stress habe - aber ich spüre nichts davon", dann treffen zwei Ebenen aufeinander. Denn Stress ist real - auch wenn man ihn subjektiv nicht sofort spürt. Und wenn sich jemand in einer Situation überfordert fühlt, die für einen anderen völlig harmlos erscheint, dann ist das trotzdem real. Die eine Person denkt vielleicht: "Ist doch alles in Ordnung, warum machst du dir Sorgen?" Für den anderen ist das Gefühl der Überforderung aber sehr real - auch wenn es von außen nicht nachvollziehbar erscheint. Hier zeigt sich auch eine besondere Fähigkeit des Menschen - wenn auch eine eher unangenehme: Wir können uns über alles Mögliche den Kopf zerbrechen. Wir können in Gedanken in die Vergangenheit reisen, uns über einen Streit von letzter Woche ärgern oder darüber grübeln, was bei der Arbeit nicht so gut gelaufen ist. Und wir können uns Sorgen um die Zukunft machen und uns fünf Katastrophenszenarien ausmalen, die passieren könnten.
Das Problem: Unser Körper reagiert auf diese Gedanken. Auch wenn das, worüber wir uns Sorgen machen, gar nicht real ist, löst es in unserem System eine Stressreaktion aus. Neben uns sitzt vielleicht kein Tiger - aber wir interpretieren die Situation als gefährlich. Und das reicht aus, um echten Stress zu empfinden. Ob ich diesen Stress nun an Messwerten wie der HRV festmache oder "nur" an meinem Gefühl - er ist da. Auch wenn andere Menschen nicht nachvollziehen können, warum mich etwas belastet: Für mich ist es real.
Denn Stress ist real - auch wenn man ihn subjektiv nicht sofort spürt.
Marbod Kindermann: Ich habe damals auch gedacht, dass Stress einfach dazugehört - in dieser Arbeitswelt, in dieser Position, mit der Verantwortung für die Projekte. Ich dachte, das muss so sein. Gleichzeitig habe ich aber in meinem Umfeld Leute erlebt, die in ähnlichen Situationen total entspannt und motiviert waren. Die haben Probleme eher als Herausforderung gesehen - fast mit einer gewissen Freude, sie waren neugierig und innerlich wach. Andere hingegen waren, oft geprägt durch frühere Erfahrungen, eher ängstlich. Sie sahen die gleichen Situationen negativ und hatten Angst, schlecht dazustehen. Es gibt viele Eigenschaften, die dabei eine Rolle spielen. Wie Sie schon genannt haben: Zum Beispiel "People Pleasing": Man schaut viel zu sehr auf die anderen und gar nicht darauf, wie es einem selbst eigentlich geht. Das ist fast ein Garant dafür, dass man die eigenen Batterien leer fährt - weil kein Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse da ist. Damit geht einher, dass man keine Grenzen setzen kann. Wenn ich zum Beispiel schon völlig erschöpft bin und dann fragt mich jemand - ein Kollege, eine Kollegin oder jemand aus dem privaten Umfeld: "Kannst du mir noch helfen?" Dann haben viele ein schlechtes Gewissen, wenn sie Nein sagen. Dabei wäre es völlig in Ordnung zu sagen, dass die eigene Energie dafür gerade nicht ausreicht. Aber genau dies kann ein sicherer Weg ins Burnout sein.
Aber das Schöne ist: Wir können uns ändern! Wir stehen an einem Punkt in unserem Leben, an dem unsere bisherigen Erfahrungen uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Viele dieser Prägungen stammen aus der Kindheit - aus den ersten sechs Lebensjahren, in denen wir wie ein Schwamm alles aufsaugen. In dieser Zeit lernen wir zum Beispiel: Was passiert, wenn ich wütend bin? Wenn ich meine Bedürfnisse durchsetzen möchte? Wie reagiert meine Umwelt? Und wenn ich dann früh erlebe, dass mein Umfeld ablehnend reagiert - gerade wenn es um meine Gefühle oder meine Bedürfnisse geht - und ich gleichzeitig spüre, dass ich vom Wohlbefinden meiner Bezugspersonen abhängig bin, dann passiert etwas Entscheidendes. Ich lerne, dass ich meine Bedürfnisse zurücknehmen muss. Ich bin nur sicher, wenn ich mich anpasse. Daraus kann ein Muster entstehen: Ich wende mich nach außen. Ich achte mehr darauf, wie es den anderen geht, als auf mich selbst. Und später zeigt sich das oft im Leistungsdenken - schon in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium. "Ich muss gute Noten haben, ich muss gefallen."
Irgendwann stehe ich dann da - mit diesen Mustern. Und wenn ich die ändern will, reicht es nicht, nur mein Verhalten zu ändern. Ich muss meinen Blick auf meine bisherigen Erfahrungen ändern. Ich muss sie neu bewerten. Therapeutische Ansätze, die wirklich in die Tiefe gehen, sind extrem wirksam. Es ist möglich, sein Verhalten im Alltag neu zu lernen - und dabei auch andere Gefühle in denselben Situationen zu entwickeln. Viele Menschen begreifen irgendwann, dass sie sich Grenzen setzen müssen. Und dann setzen sie das auch um - ändern also ihr Verhalten. Aber innerlich fühlt es sich nicht gut an. Für manche wird es sogar noch schlimmer - weil im Unterbewusstsein immer noch diese Glaubenssätze wirken: "Wenn ich nicht genug leiste, verliere ich meinen Job." oder "Wenn ich keine Überstunden mache, mögen mich die Kollegen nicht mehr." Und genau diese Überzeugungen sorgen dafür, dass sich das neue Verhalten falsch oder belastend anfühlt. Das Unterbewusstsein wehrt sich - und so baut sich unbewusst noch mehr Druck auf.
Marbod Kindermann: Was ich in der Regel mache, ist zunächst zu schauen, welche Gefühle heute in bestimmten Situationen auftauchen, also in Momenten, die Stress auslösen. Ich frage mich: Was sind das genau für Situationen? Was passiert da im Alltag? Welche Erlebnisse oder vielleicht auch Kommentare von anderen Menschen spielen dabei eine Rolle? Und welches Thema könnte damit verbunden sein? Oft geht es um tiefer liegende Ängste - zum Beispiel die Angst, Fehler zu machen oder abgelehnt zu werden. Dann schaue ich auch, was aus der eigenen Vergangenheit bekannt ist. Welche Erfahrungen hat man gemacht, die solche Überzeugungen geprägt haben?
Von dort aus gehe ich zurück zum Ursprung. Manche Therapieformen arbeiten genau damit - also mit der Frage: Gibt es Persönlichkeitsanteile in dir, die bestimmte Überzeugungen tragen? Oder ist vielleicht im Nervensystem etwas gespeichert, das heute noch wirkt? Wir haben vorhin schon darüber gesprochen: Es gibt Menschen, die verspannen sich genau dann, wenn sie sich eigentlich entspannen wollen. Das liegt daran, dass ihr System eine Assoziation, eine Konditionierung hat, die Entspannung mit Gefahr verbindet. In solchen Fällen fährt das System automatisch wieder hoch. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, zu verstehen und neu zu interpretieren: Was steckt eigentlich hinter diesen Mechanismen? Was wollen sie uns sagen? Und was brauchen diese inneren Systeme, um zur Ruhe zu kommen - um wirklich herunterzufahren?
Es gibt ganz unterschiedliche Zugänge zu diesen Themen. Die Arbeit mit dem inneren Kind wird immer häufiger erwähnt - auch durch das Buch von Stefanie Stahl. Viele Menschen haben dadurch verstanden, dass vieles, was heute in uns vorgeht, auf Verletzungen aus der Kindheit zurückgeht. Sich diesen inneren Anteilen zuzuwenden - ihnen Aufmerksamkeit, Anerkennung und Heilung zu schenken - kann unglaublich viel verändern: in der Art, wie wir heute Situationen interpretieren, wie wir uns verhalten und vor allem auch, wie wir uns dabei fühlen.
Viele Menschen haben dadurch verstanden, dass vieles, was heute in uns vorgeht, auf Verletzungen aus der Kindheit zurückgeht.
Marbod Kindermann: Bei den Menschen, die ich begleite, schaue ich erst einmal ganz genau hin: Wie ist deine momentane Situation? Was löst bei dir Stress aus? Oft sind es ganz andere Themen, als man zunächst denkt. Die eigene Wahrnehmung sagt vielleicht: "Das ist der Stress am Arbeitsplatz." Tatsächlich schwelt aber im Hintergrund ein Konflikt - zum Beispiel mit den Eltern oder dem Partner. Es ist fast immer ein Zusammenspiel verschiedener Lebensbereiche. Und in all diesen Bereichen haben wir oft die gleichen Muster. Wenn ich zum Beispiel im Beruf keine Grenzen ziehe, dann tue ich das in der Regel auch nicht im familiären Kontext - zum Beispiel mit den Eltern oder in der Partnerschaft. Es geht also auch darum, wirklich zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, die eigenen Wünsche überhaupt erst einmal zu spüren - und sie dann auch klar zu kommunizieren.
Für mich ist es daher zunächst wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen: Welche Situationen und Bereiche sind für mich relevant? Dann schauen wir gemeinsam genauer hin, in welchen konkreten Situationen der Stresspegel deutlich ansteigt. Vielleicht beginnen auch bestimmte Gedanken im Kopf zu kreisen. Diese Gedanken werden dann genau analysiert. Dabei lassen sich oft negative Glaubenssätze erkennen. Zum Beispiel: "Ich verliere meine Position." oder "Ich verliere mein Ansehen." Was steckt hinter diesen Gedanken? Welche Ängste stecken dahinter? So nähere ich mich Stück für Stück dem Thema.
Ein weiterer wichtiger Teil ist die Biografiearbeit: Was war bisher? Wie sahen die einzelnen Lebensphasen aus? Warum ist zum Beispiel der Stresspegel ab der Ausbildung oder dem Studium stark angestiegen? Was kam damals noch dazu? Welche anderen Komponenten haben eine Rolle gespielt? Dazu erstelle ich gerne eine Art "Landkarte". Wann war was in deinem Leben? Und wie belastend war das für dich? Das ist übrigens auch eine Methode, die bei EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) häufig angewendet wird. Es geht darum, die einzelnen Zusammenhänge sichtbar zu machen - und so gemeinsam ein gutes Gespür dafür zu entwickeln, was was ausgelöst haben könnte und wie die Themen zusammenhängen. Und das Spannende ist: Wenn wir diese Themen bearbeiten, verändert sich auch die Interpretation und das Empfinden im Hier und Jetzt. Das ist für mich das Faszinierende an dieser Arbeit.
Ein Beispiel: Wenn jemand eine bestimmte Situation letzte Woche noch mit einer 8 von 10 auf der Stress-Skala bewertet hat - und nach der Arbeit mit mir liegt diese Bewertung bei einer 4 - dann spüren die meisten diese Veränderung sofort auch im Alltag. Denn wenn sich alte Themen, Glaubenssätze oder die Schwere vergangener Erlebnisse auflösen, verändert sich auch das Erleben in der Gegenwart. Man könnte also sagen: Ich gehe direkt an die Wurzel - damit derjenige in Zukunft die gleichen Situationen anders erleben und interpretieren kann.
Marbod Kindermann: Meditation spielt da eine Rolle! Denn wenn ich Meditation gezielt einsetze, kann ich tatsächlich die Mechanismen im Gehirn umtrainieren. Das heißt, ich verändere bestimmte Symptome. Für die meisten Menschen hat Meditation eine entspannende Wirkung. Manche haben am Anfang vielleicht ein paar Hürden, aber irgendwann machen sie es gerne, weil sie die Entspannung dahinter spüren. Aber für mich ist das nur ein Nebeneffekt. Ich wende keine Werkzeuge an, nur um die Leute zu entspannen. Da sind wir wieder bei der Frage: Arbeite ich am Symptom - oder an der Ursache? Mit Meditation kann ich beides tun.
Natürlich gibt es auch Möglichkeiten, mit Atemtechniken das Nervensystem in bestimmten Situationen gezielt zu regulieren. Zum Beispiel mit EMDR, also der Therapiemethode mit Augenbewegungen: Auch hier wirkt man auf das Nervensystem ein, aktiviert den Parasympathikus und fährt das System herunter - obwohl man sich gerade thematisch mit einem belastenden Erlebnis auseinandersetzt. Therapeutisch macht man sich diesen Gegensatz zu nutze: Die Kombination aus belastendem Thema und gleichzeitiger Beruhigung wird im Gehirn unterschiedlich abgespeichert. Wenn ich also eine belastende Situation mit einer körperlichen Beruhigung verbinde, kann ich das Erlebte durch diesen Prozess neu interpretieren - und anders abspeichern. Atemtechniken sind auf jeden Fall wirksam - vor allem für Menschen, die sagen: "Ich habe gerade ein hohes Stresslevel und möchte das jetzt situativ herunterfahren." Aber aus meiner Sicht - und aus meiner Erfahrung - bringt es wenig, sich nur auf Entspannungstechniken zu konzentrieren. Wenn ich nur darauf schaue, wie ich mich jetzt runterfahren kann, bleibe ich auf der Symptomebene und arbeite nicht an der Ursache.
Natürlich gibt es auch Möglichkeiten, mit Atemtechniken das Nervensystem in bestimmten Situationen gezielt zu regulieren.
Marbod Kindermann: Ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen grundsätzlich wissen, wie sie sich gesund ernähren können. Ich glaube, jedem ist klar: Wenn ich Burger esse, Pommes und danach ein Eis, dann fühle ich mich danach anders - und das hat natürlich Auswirkungen auf mein Wohlbefinden und meine Stressresistenz. Sich gesund zu ernähren bedeutet auch, mit meiner Energie hauszuhalten. Denn ungesundes Essen belastet den Körper mehr. Trotzdem ist die Ernährung inhaltlich nie Teil meines Coachings - also im Sinne einer klassischen Ernährungsberatung. Denn in der Regel wissen die Menschen, was ihnen gut tut.
Was oft übersehen wird: Chronischer Stress verändert den Appetit.
Das heißt, wir essen unregelmäßiger und ungesünder. Es entstehen Cravings, also ein starkes Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln. Wenn ich unter Stress stehe, kann es sein, dass mein Körper gezielt nach etwas Ungesundem verlangt - zum Beispiel nach Zucker. Denn er lebt in diesem Moment von seinen Reserven und will schnell wieder Energie bekommen. Wenn ich es also schaffe, den Stresslevel zu senken, normalisieren sich in der Regel auch diese Essgewohnheiten. Die Menschen leben dann automatisch gesünder. Sie nehmen sich wieder Zeit für Bewegung, gehen öfter in die Natur und hinterfragen ungesunde Gewohnheiten.
Viele merken dann zum Beispiel: "Abends sitze ich eine Stunde am Handy und scrolle völlig apathisch herum." Sie wissen, dass das nicht gut für sie ist - das muss ich ihnen nicht sagen. Meine Aufgabe ist es vielmehr, ihnen zu helfen, wieder an den Punkt zu kommen, an dem sie selbst wieder die Kontrolle übernehmen. Das heißt auch: Der präfrontale Cortex - also der Teil des Gehirns, der für bewusste Entscheidungen zuständig ist - wird wieder aktiv. Dann kann jemand sagen: "Ja, ich habe jetzt das Bedürfnis, mein Handy in die Hand zu nehmen, aber ich weiß, dass es mir danach schlechter geht." Und genau in diesem Moment entsteht die Fähigkeit, einen Impuls bewusst zu unterdrücken.
Genauso sehe ich das mit der Ernährung. Ich empfehle keine bestimmten Nahrungsergänzungsmittel oder spezielle Ernährungsformen, um Stress abzubauen. Stattdessen baue ich darauf, dass durch Empowerment und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit eine natürliche Veränderung eintritt: Die Menschen ernähren sich gesünder, bewegen sich mehr - und passen ihr Verhalten im Alltag so an, dass es sich wieder gut anfühlt.
Marbod Kindermann: Es ist immer schwierig, wirklich aus so einer Phase herauszukommen. Wir sind oft in mehreren Spiralen gefangen, die sich gegenseitig antreiben. Was vielen - zumindest kurzfristig - hilft, sich zu entspannen, sind verschiedene Atemtechniken. Eine einfache Methode ist zum Beispiel, die Einatmung auf vier Takte und die Ausatmung auf acht Takte zu setzen. Gerade dieses Verhältnis, also doppelt so lange auszuatmen wie einzuatmen, wirkt direkt auf das Nervensystem und unterstützt die Entspannung. Wir haben vorhin schon über die Herzratenvariabilität gesprochen. Da geht es um die beiden Stränge des Nervensystems. Wenn ich bewusst einatme (z.B. vier Sekunden) und dann acht Sekunden ausatme, dann lenke ich mein Nervensystem wieder in Richtung Entspannung.
Es gibt auch andere Formen der Atemregulation, z.B. das sogenannte Box Breathing. Dabei atmet man vier Takte ein, hält vier Takte die Luft an, atmet vier Takte aus und hält wieder vier Takte die Luft an. Auch hier greife ich bewusst in meinen Atemrhythmus ein - mit dem Ziel, das Nervensystem positiv zu beeinflussen.
Dann gibt es noch fortgeschrittene Techniken wie die intermittierende Hypoxie-/Hyperoxieatmung. Dabei hyperventiliert man für eine bestimmte Zeit und hält dann die Luft an. Das heißt, man geht erst in einen Sauerstoffüberschuss und dann in einen Sauerstoffmangel. Solche Methoden sind zum Beispiel unter Namen wie Wim-Hof-Atmung oder Soma-Atmung bekannt. Diese Techniken wenden wir auch gerne bei Retreats an. Wir beginnen mit einer Atemübung und gehen dann direkt in die Meditation. Gerade Menschen, die sehr gestresst sind und das Gefühl haben, dass ihre Gedanken ständig kreisen, erleben so eine Art "Reset". Sie kommen viel entspannter in die Meditation und spüren überhaupt wieder, wie sich ein friedlicher Zustand anfühlen kann - wenn diese ganzen Gedankenkonstrukte zur Ruhe kommen. Also Atemtechniken sind auf jeden Fall super wertvoll - genauso wie Meditation, wenn es für die Person in dem Moment funktioniert.
Es gibt aber auch viele Menschen, die sagen: "Mein Stress ist gerade so akut - da komme ich gar nicht rein." Oder sie setzen sich hin, wollen meditieren, aber die Gedanken hören einfach nicht auf. Dann sind sie frustriert und entmutigt, weil es nicht funktioniert - und in dem Moment leider auch nicht geholfen hat.
Marbod Kindermann: Ich unterstütze natürlich vor allem die Leute, die auch eine Veränderung anstreben. Aber es gibt auch viele, die sich erst melden und dann doch wieder sagen: "Ach, ich versuche es lieber alleine." Oft spürt man schon zu Beginn, wenn sich unbewusste Widerstände formen. Denn unser Unterbewusstsein wehrt sich grundsätzlich gegen Veränderungen. Das ist ein ganz natürlicher Mechanismus: Es sagt uns immer, wir sollen so weitermachen wie bisher - schließlich haben wir damit bisher überlebt. Veränderung ist für das Unterbewusstsein potenziell gefährlich. Für unsere Vorfahren in der Steinzeit war das wahrscheinlich sogar überlebenswichtig.
Heute aber brauchen wir Werkzeuge und Strategien, um unser Unterbewusstsein in Veränderungsprozessen mitzunehmen. Denn gerade dann, wenn die ersten Stresssymptome nur unterschwellig auftauchen - also noch nicht extrem spürbar sind - oder wenn jemand denkt, er habe alles gut im Griff, dann meldet sich oft genau dieses Unterbewusstsein und sagt: "Lass doch bitte alles so, wie es ist. Veränderung kostet nur unnötig Kraft." Das erlebe ich sehr oft. Und deshalb finde ich es so bemerkenswert, wenn jemand an einem Punkt steht und merkt: "Stopp - so geht es nicht weiter. Mir geht es nicht gut. Jetzt muss sich etwas ändern." Diese Erkenntnis ist alles andere als selbstverständlich - und genau da fängt wirkliche Veränderung an.
Heute aber brauchen wir Werkzeuge und Strategien, um unser Unterbewusstsein in Veränderungsprozessen mitzunehmen.
Marbod Kindermann: Was viele berichten, ist diese extreme Antriebslosigkeit - oft begleitet von einem Gefühl der Ohnmacht. Besonders intensiv erleben dies Menschen, die über einen längeren Zeitraum starkem Stress ausgesetzt waren. Meist hatten sie vorher noch genügend Kraft, um gegen diesen Stress anzukämpfen. Umso unverständlicher ist es für sie, wenn sie plötzlich völlig zusammenbrechen. Es ist, als käme dieser Zustand von außen, als hätten sie selbst keine Kontrolle mehr darüber. Viele sind in solchen Momenten zum ersten Mal wirklich auf die Hilfe anderer angewiesen - was ihnen oft unangenehm ist, weil ihr inneres Muster eigentlich das Gegenteil verlangt: stark sein, alles alleine schaffen. Dahinter steckt eine tiefe Erschöpfung, eine Leere, oft auch Mutlosigkeit. Und leider kommt oft noch Resignation hinzu, weil unser Gesundheitssystem sie in dieser Situation nicht gut auffängt. Therapieplätze sind rar und in akuten Phasen fehlt es an schneller und verlässlicher Unterstützung. Das wiederum wird zu einem zusätzlichen Stressfaktor: Wer dringend Hilfe braucht, findet oft keine.
Marbod Kindermann: Es ist tatsächlich so, dass ich den Leuten oft nicht viel mehr empfehlen kann, als wirklich einen langen Atem bei der Suche nach einem Therapieplatz zu haben. In manchen Bundesländern gibt es zentrale Stellen, bei denen man sich melden und auf Wartelisten setzen lassen kann. Am erfolgreichsten sind aber oft diejenigen, die dranbleiben: die viele Therapeuten anrufen, E-Mails schreiben und hartnäckig nachfragen - bis sie zufällig einen freien Platz finden. Oft gibt es lange Wartelisten und monatelanges Ausharren - bis man endlich wirklich Hilfe bekommt. Gerade in akuten Fällen - und das gilt für alle psychischen Erkrankungen - ist das besonders tragisch. Denn unser Gesundheitssystem kann diesen dringenden Bedarf leider nicht ausreichend abdecken.
Marbod Kindermann: Diese Frage kann ich nicht wirklich beantworten. Die Frage ist immer: Nehmen die Krankheiten wirklich zu? Was sagt uns die Statistik? Und gleichzeitig stellt sich die Frage: Gibt es heute einfach ein anderes Bewusstsein? Gehen die Menschen heute eher mit psychischen Erkrankungen um als früher? Ich kann auch nicht genau sagen, ob sich die Zahl der Therapieplätze so angepasst hat, wie es eigentlich notwendig wäre. Klar ist aber, dass wir bei den Therapieplätzen eine Art Planwirtschaft haben. Das heißt, es wird nicht geschaut, wie groß der tatsächliche Bedarf in der Bevölkerung ist. Stattdessen wird von vornherein eingeplant, dass nicht allen Menschen geholfen werden kann. Diese Wartezeiten sind also systemimmanent eingeplant.
Hinzu kommt, dass die Krankenkassen finanziell überlastet sind und das im Prinzip nicht stemmen können - weil das Geld nicht dorthin fließt, wo es wirklich gebraucht würde, nämlich in die Therapieplätze. Spannend finde ich auch, das Ganze im gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Wenn ich Erzählungen von älteren Generationen höre, ist oft von einer gewissen "Stressresistenz" die Rede. Wenn man heute sagt, dass einem etwas zu viel wird oder dass man gerade eine Belastung nicht aushält, stößt man schnell auf Unverständnis. Dann heißt es: "Sei doch nicht so, das ist doch nicht so schlimm." Das zeigt, wie interessant der Vergleich zwischen den Generationen ist. Was ist heute anders? Das ist schwer zu sagen: Sind wir wirklich verletzlicher geworden? Oder trauen wir uns einfach mehr zu sagen, wie es uns wirklich geht?
Ich glaube, das ist eine spannende Forschungsfrage: Wie haben sich gesellschaftliche Einstellungen und Verhaltensweisen in Bezug auf psychische Gesundheit über die Generationen hinweg verändert? Klar ist auch: Wir tragen die Traumata früherer Kriegszeiten heute noch - zum Teil unbewusst - in uns. Es gibt Muster, die sich durch die Generationen ziehen. Zum Beispiel die Nachkriegsgeneration, die sehr leistungsorientiert war. Und heute kommt eine Generation, die sagt: "Moment mal, ich will mich doch nicht kaputt machen. Warum soll ich diese Karriereleiter hochklettern, wenn sie mich krank macht?" Da passiert also gesellschaftlich gerade sehr viel. Und genau das beeinflusst auch, wie wir Stress erleben - ob er zunimmt oder vielleicht auch abnimmt - und was das letztendlich für unsere psychische Gesundheit bedeutet.
Klar ist aber, dass wir bei den Therapieplätzen eine Art Planwirtschaft haben.
Marbod Kindermann: Das ist eine sehr interessante Frage, weil Menschen sehr unterschiedlich auf Krisen reagieren. Das sehen wir auch bei traumatischen Erlebnissen: Manche entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung, andere haben zwar kurzzeitig etwas zu verarbeiten, finden aber schnell wieder zu ihrem alten Gleichgewicht zurück. Und dann gibt es Menschen, die an solchen Erlebnissen sogar wachsen - die sie als eine Art Weckruf sehen. Ich begleite oft Menschen, die rückblickend sagen: "Das war unglaublich hart, aber ich musste diese Krise erleben, um so wachsen zu können." Sie spüren, wie viel Last durch die Aufarbeitung von ihnen abfällt und richten ihr Leben neu aus. Sie sind regelrecht aufgewacht - mit einem klareren Blick auf sich selbst. Und sie würden heute sicher nicht mehr über ihre Grenzen gehen.
Bei anderen wiederum sehe ich, dass das innere Alarmsystem auch nach der Krise überempfindlich bleibt. Diese Menschen wollen eigentlich wieder arbeiten und finden darin auch Erfüllung. Aber sie werden immer wieder ausgebremst - ihr Stresspegel steigt schneller, der Körper reagiert schneller mit einem "Nein". Sie erleben sich als weniger belastbar. In solchen Fällen braucht es mehr Auseinandersetzung mit sich selbst. Es geht darum, sich neu auszurichten, sich wieder fein auszurichten auf das, was möglich ist. So gehen manche gestärkt aus der Krise hervor. Für andere ist der Weg zurück zur gewohnten Stärke etwas schwieriger - weil ihr inneres Warnsystem weiterhin Alarm schlägt und sie davor schützen will, noch einmal in eine solche Situation zu geraten.
Marbod Kindermann: Meditation ist auf jeden Fall ein Werkzeug, das ich sehr empfehlen kann. Wenn ich sie richtig anwende, hilft sie mir, mein Gehirn umzuprogrammieren - also Dinge anders zu interpretieren, besser zur Ruhe zu kommen und eine Art geistige Kontrolle zurückzugewinnen. Mit mentaler Kontrolle meine ich die Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen: Benutze ich jetzt mein Handy? Wie ernähre ich mich? Treibe ich Sport? Meditation kann hier viel bewirken.
In akuten Stresssituationen helfen auch die Atemtechniken, die wir besprochen haben. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Reflexion - am besten mit einem Tagebuch. Einfach mal aufschreiben: Wie war mein Tag? Was hat bei mir Stress ausgelöst? Welche Gedanken verbinde ich damit? Der erste Schritt, also die Basis für Veränderung, ist immer das Bewusstmachen der eigenen Muster: Wann reagiere ich wie? Was passiert emotional in mir? Welche Gedanken kommen auf?
Diese Klarheit hilft oft schon enorm, Dinge anders zu bewerten. Zum Beispiel: "Immer wenn diese Person das sagt, löst es etwas in mir aus - und ich reagiere auf eine bestimmte Weise." Allein diese Erkenntnis entlastet viele Menschen, weil sie merken, dass es eigentlich gar nichts direkt mit der Person zu tun hat. Das ist ein altes Muster, das da aktiviert wird. Und genau diese Erkenntnis kann schon sehr entlastend sein.
Mit mentaler Kontrolle meine ich die Fähigkeit, bewusste Entscheidungen zu treffen...Meditation kann hier viel bewirken.
Marbod Kindermann: Ich glaube, ein häufiger Fehler ist, dass man sich sagt: "Das ist jetzt nur diese eine Phase, dieses eine Projekt, nur dieser Monat oder dieses Quartal" - und sich damit irgendwie selbst belügt. Man sagt sich: "Ich muss nur noch einmal die Zähne zusammenbeißen, dann wird alles besser." Das ist ein Muster, das viele immer wieder wiederholen. Und nach zehn Jahren kommt dann die Erkenntnis: Diese entspannte Phase, auf die ich die ganze Zeit gewartet habe, kommt nicht. Nicht, weil sie nicht möglich wäre - sondern weil man sie sich nicht erlaubt. Weil man sich nicht die Grenzen setzt, die so eine Phase überhaupt erst ermöglichen würden.
Es ist dieses "Wenn das noch erledigt ist, dann kann ich mich entspannen." Aber unsere To-do-Listen sind in der Regel einfach übervoll. Egal wie viel ich arbeite, selbst wenn ich nicht mehr schlafe und 24 Stunden am Tag durcharbeite, ich würde wahrscheinlich nie alles schaffen. Das heißt: Ich muss lernen, meinen Alltag auch dann zu genießen, wenn noch Arbeit auf dem Schreibtisch liegt. Auch wenn es noch Dinge gibt, die ich erledigen könnte. Deshalb ist es auch ganz wichtig, irgendwann einen Schlussstrich zu ziehen - damit man nicht immer wieder in diesen Teufelskreis gerät.
Marbod Kindermann: Es gibt einfach viele Berufe und Arbeitsumgebungen, in denen es wirklich stressig ist. Stress ist natürlich immer eine Interpretationsfrage. Aber es liegt auf der Hand: Wenn draußen sehr viel los ist - wie ich es zum Beispiel oft in Krankenhäusern erlebe -, dann herrscht dort eklatanter Personalmangel, es passiert sehr viel gleichzeitig und nicht selten hängt das Leben von Menschen davon ab. In solchen Situationen prasselt enorm viel auf einen ein. Und ja, natürlich neigt man dann dazu, das alles sehr nah an sich heranzulassen.
Trotzdem erlebe ich bei den wenigsten Menschen, die ich begleite, dass sie am Ende wirklich den Beruf wechseln. Viele finden vielmehr einen besseren Umgang mit der Situation und lernen, anders zu reagieren. Denn das ist oft die Quelle: die ursprüngliche Motivation, warum man in diesen Beruf gegangen ist? Wenn Menschen mit dieser inneren Haltung wieder in Kontakt kommen, schöpfen sie eine ganz andere Kraft - und können durch veränderte Muster auch im Alltag wieder besser abschalten.
Denn das ist eigentlich das Schwierige an chronischem Stress: Wer einmal in dieser Spirale steckt, kann auch nach Feierabend seine Freizeit nicht mehr genießen. Die eigenen Speicher leeren sich weiter - und das ist das eigentlich Gefährliche.
Wenn aber die Fähigkeit zurückkehrt, einen klaren Schnitt zu machen - also zu sagen: "Okay, das war die Arbeit, aber jetzt ist Feierabend" - dann kann Freizeit wieder zur Kraftquelle werden. Dann hat man auch wieder Lust, sich zu verabreden, auszugehen, unter Menschen zu sein - und daraus neue Kraft zu schöpfen. All das hat in vielen Fällen etwas mit dem Setzen von Grenzen zu tun - und mit der inneren Bewertung von Situationen. Natürlich, das ist mir bewusst: Es gibt Berufsfelder, in denen einfach viel mehr Input reinkommt und es wirklich eine Herausforderung ist, dauerhaft gesund zu bleiben. Aber auch dort kann man neue Wege finden, mit Stress umzugehen.
Danke für das Interview!
Marbod Kindermann betreibt einen Podcast namens "Lässig Statt Stressig". Hier geht´s zum YouTube-Kanal.
Letzte Aktualisierung am 25.04.2025.