Prof. Weigand: In der Tat, die Sepsis gehört zu führenden Erkrankungen und Todesursachen weltweit. So geht eine neuere Studie (basierend auf Berechnungen für das Jahr 2017) von global 49 Millionen Sepsis-Fällen aus. Die Sepsis wird zudem als ursächlich für fast ein Viertel aller weltweiten Todesfälle angesehen. Warum ist die Sepsis in der Normalbevölkerung vermeintlich nicht so präsent? Dies ist nicht leicht zu beantworten. Schließlich begegnet die Sepsis uns doch bereits in der Kinderliteratur, u.a. in den berühmten Geschichten Astrid Lindgrens um Michel aus Lönneberga und dessen heldenhafte Rettung des schwer an einer Sepsis erkrankten Hofbewohners Alfred. Möglicherweise wird die Erkrankung – umgangssprachlich auch als Blutvergiftung bezeichnet – schlichtweg in ihrer Bedeutung unterschätzt. Um die Sepsis mehr in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, findet jedes Jahr am 13. September der Welt-Sepsis-Tag statt. Dieser hat unter anderem zum Ziel, die Bevölkerung und die politisch Verantwortlichen auf die vielfältigen Herausforderungen rund um das Thema Sepsis aufmerksam zu machen.
Prof. Weigand: Die Sepsis ist definiert als eine lebensbedrohliche Funktionsstörung eines oder mehrerer Organe infolge einer fehlregulierten Abwehrreaktion unseres Immunsystems oder anderer Organsysteme. Die Sepsis basiert dabei immer auf einer Infektion und ist deren schwerste Verlaufsform. Dabei überwinden Krankheitserreger zunächst die ersten Abwehrbarrieren unseres Körpers wie die Haut oder die Schleimhäute. Abwehrzellen, die mit den eingedrungenen Krankheitserregern in Kontakt treten, werden aktiviert und setzen Botenstoffe frei, die wiederum andere Abwehrzellen im Sinne eines Schneeballeffekts aktivieren. Dies führt normalerweise dazu, dass der Körper die Krankheitserreger erfolgreich bekämpft. In der Sepsis kommt es auf verschiedenen Ebenen zu einer übersteigerten oder aber auch zu einer zu schwachen Abwehrreaktion. Hierdurch ist der Körper nicht in der Lage, die Infektion zu kontrollieren. Es kommt sogar vielmehr zu einer Selbstschädigung des Körpers. Im Verlauf „brennt das Immunsystem aus“, das heißt, es ist nicht mehr in der Lage, auf eine weiter fortbestehende Infektion oder auf später hinzukommende Krankheitserreger adäquat zu reagieren.
Die Sepsis basiert dabei immer auf einer Infektion und ist deren schwerste Verlaufsform.
Prof. Weigand: Die Sepsis ist ein hochkritisches Krankheitsbild. Unbehandelt verläuft sie meist tödlich. Und auch mit einer Behandlung bleibt die Sterblichkeit sehr hoch. Deshalb ist es besonders wichtig, die Zeichen einer Sepsis früh zu erkennen und schnellstmöglich mit einer Therapie zu beginnen.
Prof. Weigand: In der überwiegenden Anzahl der Fälle sind Bakterien Auslöser einer Sepsis. Wesentlich seltener kann eine Sepsis aber auch auf Boden einer Infektion mit Viren, Pilzen oder Parasiten entstehen. Erreger, die besonders häufig zu einer Sepsis führen, sind die Bakterien Escherichia coli (Darmkeime) sowie Staphylokokken (Haut- und Schleimhautkeime).
Prof. Weigand: Dies lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass die einer Sepsis zugrundeliegenden Erreger nicht selten bereits auf oder in unserem Körper, also z.B. auf der Haut oder im Darm vorkommen. Dies stellt für den Organismus im Regelfall kein Problem dar. Erst wenn die physischen Schutzbarrieren des Körpers überwunden werden, also wenn Erreger beispielsweise durch Verletzungen bei Unfällen in ansonsten sterile Bereiche wie z.B. die Bauchhöhle gelangen, können diese Keime eine Infektion und im schlimmsten Fall eine Sepsis verursachen. Ein großes Trauma, wie es im Rahmen eines Unfalls auftreten kann, führt zudem nachgewiesenermaßen ebenfalls zu einer Schwächung der Abwehrfunktion. Dies kann eine vermehrte Erregerausbreitung begünstigen.
Prof. Weigand: Einer Studie aus dem Jahr 2018 zufolge liegt bei knapp 30% aller Patienten auf der Intensivstation eine Sepsis vor. Dabei gilt zu berücksichtigen, dass bei einem Großteil der Patienten die Sepsis bereits aufgetreten ist, bevor sie auf die Intensivstation aufgenommen wurden. Die Sepsis ist also ein Hauptgrund, warum diese Patienten eine intensivmedizinische Therapie benötigen. Leider gibt es jedoch auch Fälle, bei denen eine Sepsis als sekundäre Komplikation bei intensivmedizinisch behandelten Patienten auftritt. So haben beispielsweise Patienten, die über einen längeren Zeitraum beatmet werden müssen, ein erhöhtes Risiko, an einer Lungenentzündung und in der Folge an einer Sepsis zu erkranken.
Prof. Weigand: Leider sind die ersten Anzeichen einer Sepsis häufig unspezifisch. Grundsätzlich entsprechen sie den allgemeinen Zeichen einer Infektion wie Fieber, Schüttelfrost, erniedrigtem Blutdruck, Verwirrtheit und/oder gesteigerter Atemfrequenz. Bei Menschen mit Grunderkrankungen wie z.B. Diabetes mellitus oder einer Querschnittslähmung können diese Zeichen aber auch verschleiert sein. Hierdurch ist es möglich, dass die Sepsis erst verzögert erkannt und behandelt wird. Der Verlauf einer Sepsis hängt von vielen Faktoren ab, wie beispielsweise Alter, Vorerkrankungen und dem Krankheitserreger, der ursächlich für die Infektion ist. Aber auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Da die Sepsis häufig rasch voranschreitet und schnell zum Tod führen kann, muss schnellstmöglich mit einer effektiven Therapie begonnen werden.
Leider sind die ersten Anzeichen einer Sepsis häufig unspezifisch.
Prof. Weigand: Der Anstieg der Sepsis-Häufigkeit hat mehrere Gründe. Gerade in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen spielt der Umstand sicher eine Rolle, dass die Bevölkerung ein höheres Lebensalter erreicht, jedoch auch häufig vielfach vorerkrankt ist. Manche Menschen benötigen für andere Erkrankungen Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken. Diese Menschen haben ein höheres Risiko, eine Infektion zu entwickeln und an einer Sepsis zu erkranken. Zudem ermöglicht die moderne Medizin beispielsweise Operationen auch bei Hochrisiko-Patienten, bei denen ein solcher Eingriff früher nicht denkbar gewesen wäre. Damit steigt aber auch das Risiko, dass diese Patienten eine Sepsis als Komplikation entwickeln.
Wichtig ist aber auch zu verstehen, wie die Daten zur Häufigkeit der Sepsis erhoben werden. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel die Abfrage von Entlass-Diagnosen, also die Untersuchung, wie häufig der Begriff Sepsis als Diagnose in Arztbriefen erscheint. Studien konnten zeigen, dass hierdurch die tatsächliche Häufigkeit einer Sepsis eher unterschätzt wird. Nicht zuletzt trägt auch das zunehmende Wissen und die Beschäftigung mit der Thematik Sepsis dazu bei, dass diese häufiger erkannt und behandelt wird.
Prof. Weigand: Die Diagnose Sepsis ist nicht immer einfach zu stellen. So existieren keine Symptome, die ausschließlich bei einer Sepsis auftreten. Vielmehr stützt sich die Diagnose neben den genannten allgemeinen Zeichen einer Infektion wie Fieber, Schüttelfrost, erniedrigtem Blutdruck, Verwirrtheit und/oder gesteigerter Atemfrequenz auf Symptome, die auf das Versagen eines oder mehrerer Organe hindeuten. Damit auch Ungeübte in der Lage sind, Anzeichen einer Sepsis zu erkennen, wird ein einfacher Test, der sogenannte quick sequential (sepsis-related) organ failure assessment (qSOFA)-Score empfohlen. Dieser setzt sich im Prinzip aus drei Fragen zusammen:
Werden zwei dieser Fragen mit ja beantwortet, muss das Vorliegen einer Sepsis in Betracht gezogen werden und ein Arzt bzw. das Krankenhaus aufgesucht werden. Dort stehen dann weitere Untersuchungen, beispielweise die Analyse von Entzündungsparametern, zur Verfügung, die eine Verdachtsdiagnose untermauern können. Dieser Test ist allerdings wenig sensitiv, sodass er nicht alleine angewandt werden sollte.
Prof. Weigand: Die Behandlung der Sepsis beruht auf mehreren Säulen. Das oberste Ziel ist es, die Infektionserreger zu bekämpfen und die Folgen der Sepsis für den Körper abzumildern. Zur Erregerbekämpfung werden zunächst anti-infektive Medikamente verabreicht, also z.B. Antibiotika bei Verdacht auf eine bakterielle Infektion. Zudem muss der Infektionsherd ausgeschaltet werden, wodurch verhindert wird, dass weitere Krankheitserreger die Infektion unterhalten. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der sogenannten „Herdsanierung“. Hierfür kann eine Operation notwendig sein. Häufig befinden sich Patienten mit einer Sepsis in einem hochkritischen Zustand, d.h. eines oder mehrere Organe müssen künstlich unterstützt werden. Das können z.B. das Herz-Kreislaufsystem (u.a. durch Gabe von Infusionen und Medikamenten, die den Blutdruck aufrecht erhalten), die Lunge (durch künstliche Beatmung), die Leber oder die Nieren sein.
Das oberste Ziel ist es, die Infektionserreger zu bekämpfen und die Folgen der Sepsis für den Körper abzumildern.
Prof. Weigand: Das hängt von vielen Faktoren ab. Entscheidend ist, wie effektiv und schnell es gelingt, die ursächliche Infektion zu kontrollieren und in welchem Ausmaß bereits unumkehrbare Organschäden eingetreten sind. Leider ist die Sterblichkeit der Sepsis noch immer sehr hoch. So ergab eine deutschlandweite Untersuchung, dass ca. die Hälfte der intensivmedizinisch behandelten Patienten mit einer Sepsis an deren Folgen verstirbt. Nicht nur die Akutphase, sondern auch die Spätfolgen einer Sepsis tragen zu der hohen Sterblichkeit bei.
Prof. Weigand: Zu den Langzeitfolgen einer Sepsis gehört die chronische Funktionsstörung von Organen wie beispielsweise der Nieren. Aufgrund der schwerwiegenden Folgen einer Sepsis für das Immunsystem haben Überlebende zudem ein deutlich erhöhtes Risiko, an weiteren Infektionen zu erkranken. Neben den somatischen, d.h. den organbezogenen Folgen einer Sepsis kann es zudem zu schwerwiegenden Folgen für die Psyche der Betroffenen kommen. Zusammen können diese Langzeitfolgen der Sepsis unter anderem den Verlust der Erwerbsfähigkeit nach sich ziehen.
Prof. Weigand: Eine Sepsis basiert immer auf einer Infektion. Entsprechend dienen alle Maßnahmen der Infektionsvermeidung letztendlich dem Schutz vor einer Sepsis. Diese umfassen sowohl Aspekte der Hygiene (z.B. die Hände- oder Wundhygiene), als auch sämtliche Maßnahmen, die unser Immunsystem intakt halten bzw. nicht schwächen. Dazu gehört beispielsweise die Vermeidung von Stress und Giftstoffen (Stichwort Genussmittel), Bewegung, Schlafhygiene sowie eine möglichst ausgewogene Ernährung. Aus diesem Grund spielen auch Impfungen gegen Infektionskrankheiten eine bedeutende Rolle. Insbesondere Risikokollektive wie ältere Menschen oder solche mit chronischen Erkrankungen können so das Risiko einer Infektion senken.
Entsprechend dienen alle Maßnahmen der Infektionsvermeidung letztendlich dem Schutz vor einer Sepsis.
Prof. Weigand: Grundsätzlich beruht die Behandlung der Sepsis auf der medikamentösen Erregerbekämpfung, der interventionellen und/oder chirurgischen Herdsanierung sowie sämtlichen Maßnahmen zur Unterstützung von Organsystemen, die bei der Sepsis betroffen sind. Das Repertoire medizinischer Maßnahmen ist groß, doch nicht alle Maßnahmen sind für alle Patienten mit einer Sepsis von Vorteil. Dies zeigen bedeutsame Studien der letzten Jahrzehnte, die die Notwendigkeit einer individuell angepassten Therapie unterstreichen. Die Beeinflussung der Immunreaktion in der Sepsis ist nach wie vor ein großes Thema. Dabei verstehen wir immer mehr, dass die Fehlregulation des Immunsystems individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Dies gilt es weiter zu erforschen, um neue zielgerichtete Therapieansätze entwickeln zu können.
Prof. Weigand: Die Forschung auf dem Gebiet der Sepsis umfasst viele Bereiche, ausgehend von der Prävention, über Diagnostik und Therapie bis hin zur Rehabilitation und der Untersuchung von Langzeitfolgen der Erkrankung. Eine multiprofessionelle, internationale Expertengruppe der Surviving Sepsis Campaign hat Anfang des Jahres wissenschaftliche Prioritäten der Sepsis-Forschung zusammengefasst. Diese umfassen Strategien zur Früherkennung der Sepsis und der damit verbundenen Organdysfunktion, die Identifikation der optimalen Medikamente zur Kreislaufunterstützung und die Frage, inwiefern eine personalisierte Medizin das Überleben in der Sepsis verbessern könnte. Auf grundlagenwissenschaftlicher Ebene werden unter anderem Fragen nach bestmöglichen Sepsis-Modellen, der Rolle des Darmmikrobioms oder (epi)genetischer Mechanismen in der Sepsis genannt.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 06.05.2024.