Prof. Schomburg: Das Spurenelement Selen ist essenziell, d.h., wenn es fehlt, dann drohen Erkrankungen und Funktionsausfälle. Als Spurenelement können wir es nicht selbst synthetisieren, sondern müssen es mit der Nahrung aufnehmen. Hierin liegt ein großes Problem, denn unsere Ernährung in Europa ist tendenziell eher selenarm, sodass wir derzeit von ca. 30% Mitbürgern mit unzureichender Selenversorgung in Deutschland ausgehen.
Benötigt wird Selen für eine kleine Gruppe von selenabhängigen Proteinen, die wichtige Funktionen im Metabolismus, also dem Stoffwechsel, und für unser Hormon-, Nerven- und Immunsystem übernehmen. Dazu zählen in erster Linie die Energieversorgung der Zellen über ihre Mitochondrien, also die Kraftwerke, und deren Aktivierung und Regulation. Hierfür werden u.a. Schilddrüsenhormone benötigt, die in den verschiedenen Geweben bei Bedarf aktiviert werden. Hierbei wird von dem inaktiven Thyroxin, welches das Hauptprodukt unserer Schilddrüse darstellt, ein Jod-Atom abgespalten, es erfolgt also eine Jodentfernung (Dejodierung), die für die Hormonwirkung entscheidend ist. Und diese Reaktion kann nur durch selenabhängige Enzyme, sogenannte Dejodasen, katalysiert werden. Fehlt uns also Selen, so können wir die gewebespezifische Regulation der Schilddrüsenhormone nicht kontrollieren, die Mitochondrien arbeiten nur suboptimal, ein Energiemangel resultiert, der die Lebensqualität negativ beeinflusst.
Ebenso werden wir durch selenhaltige Enzyme der Glutathionperoxidase-Familie vor gefährlichen Peroxiden geschützt, deren Wirkung viele vielleicht vom Friseur oder Zahnarzt kennen. Diese aggressiven reaktiven Sauerstoffspezies können Farbstoffe oxidieren, sodass die Zähne wieder strahlend weiß und die Haare blond werden. Im Körper nutzt die Schilddrüse diese Reaktion bei der Hormonsynthese; entsprechend muss sie sich aber auch vor ungewollter Oxidation ihrer eigenen Bestandteile schützen, was ihre hohe Dichte an Selenoproteinen und den hohen Selengehalt der Schilddrüse erklärt. Liegt ein Selenmangel vor, können nicht nur die gewollten Oxidationen ablaufen, sondern auch das Gewebe nimmt Schaden. Große longitudinale Observationsstudien haben gezeigt, dass das Risiko für Schilddrüsenerkrankungen direkt mit dem Selenmangel assoziiert ist.
Aber nicht nur die Schilddrüse ist dann betroffen, sondern der gesamte Organismus. So konnten wir gerade in der Charité zusammen mit den Kollegen und Kolleginnen der Berliner Altersstudie zeigen, dass der Selenstatus auch das Altern beeinflusst. Bei Selenmangel steigt die Alterungsgeschwindigkeit und auch die Risiken für kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall ebenso wie für manche Krebsrisiken, insbesondere für kolorektale und hepatozelluläre Tumore, also für Darm- und Leberkrebs.
So konnten wir gerade in der Charité zusammen mit den Kollegen und Kolleginnen der Berliner Altersstudie zeigen, dass der Selenstatus auch das Altern beeinflusst.
Als letzte relevante Funktion möchte ich hier noch die Qualitätskontrolle nennen. Selenabhängige Enzyme kontrollieren direkt die Qualität der neu synthetisierten Proteine im Körper und katalysieren deren Abbau, wenn sie z.B. fehlerhaft oder unsachgemäß gefaltet sind. Also wie der TÜV beim Auto. Fehlt nun eine ausreichende Selenversorgung, so leidet auch diese Qualitätskontrolle, und falsch und ungewöhnlich gefaltete Proteine werden freigesetzt. Solche Fehler werden vom Immunsystem erkannt, welches daraufhin mit einer Immunreaktion reagiert.
Häufen sich diese Fehler nun aufgrund eines Selenmangels zunehmend an, so kann sich das Risiko von Autoimmunerkrankungen erhöhen, wie z.B. für die Hashimoto Thyreoiditis oder den Morbus Basedow, also die großen Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse, aber ebenso auch für Autoimmunerkrankungen der Haut, der Gelenke oder des Darmes oder für das Wieder- bzw. Neuauftreten von Immunerkrankungen nach Schwangerschaft und Entbindung, wie z.B. die postpartale Thyreoiditis. Hier wird selten daran gedacht, wie relevant die Selenversorgung für diese Erkrankungen ist, aber die wissenschaftliche Datenlage spricht hier eine eindeutige Sprache und nennt dieses Risiko einen adressierbaren und vermeidbaren Faktor.
Das grundsätzliche Problem der unzureichenden Selenversorgung und allgemein von ausgewogener, vielseitiger und damit gesunder Ernährung ist bei den Themen Herzinfarkt, Krebserkrankung oder Autoimmunerkrankung allerdings, dass zu wenig an Prävention gedacht wird. Das Thema gerät oft erst dann in den Fokus, wenn es zu spät ist und eine entsprechende Diagnose gestellt wurde. Hier möchte ich mal den Begriff "Präventionsmedizin" erwähnen, der zunehmend an Bedeutung gewinnt und das Konzept beschreibt, vorbeugend sich den Risikofaktoren zu widmen, die wissenschaftlich bekannt, validiert und adressierbar sind. Gerade Letzteres ist hier entscheidend, denn wenn ich eine gewisse genetische Prädisposition habe, z.B. für eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, und diese Prädisposition diagnostiziert und erklärt bekomme, dann kann ich meinen Lebensstil daran anpassen, um das Risiko zu minimieren und habe z.B. ein weiteres Argument dafür, nicht zu rauchen, mit dem Rauchen aufzuhören oder gar nicht erst anzufangen.
Noch einfacher ist der Zusammenhang, wenn bei mir ein Mangel eines essenziellen Vitamins oder Spurenelements diagnostiziert wurde; dann kann ich gezielt meine Ernährung umstellen oder supplementieren, nicht alles als Mischung, sondern nur das, was wirklich fehlt, und den Therapieerfolg wiederum über eine analytische Messung verfolgen. Gerade beim Selen gelten diese Überlegungen nicht nur für die Präventionsmedizin, sondern auch nach einer erfolgten Diagnose einer Tumor-, Autoimmun- oder Herzerkrankung. Auch hier haben wir in Studien beobachtet, dass Patienten mit Selenmangel den schwereren Verlauf und das höhere Mortalitätsrisiko im Vergleich zu ebenso Erkrankten mit besserem Selenstatus aufweisen. Somit wäre es auch wichtig, zum Zeitpunkt der Diagnose und danach einen Selenmangel zu vermeiden, denn gerade das Immunsystem wird für die Konvaleszenz in voller Funktionalität benötigt, und diese hat es nur bei ausreichender Versorgung mit essentiellen Mikronährstoffe, zu denen in erster Linie das Selen gehört.
Prof. Schomburg: Ungenügend, also in der Schule wäre es keine vier (ausreichend), sondern eine fünf (mangelhaft). 30% der Bevölkerung, also ca. jeder 3. Einwohner, haben einen zu niedrigen Selenstatus, was ein relevantes Gesundheitsrisiko darstellt. In einer prospektiven Studie von über 7000 Bundesbürgern zeigte sich in einer Kooperation mit ausgewiesenen Experten des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg (DKFZ) mit zunehmendem Selenmangel ein stetig ansteigendes Risiko der Gesamtmortalität über einen langen Beobachtungszeitraum von über 17 Jahren.
Die Detailanalyse dieser größten Studie ihrer Art ergab, dass dieser Mangel gerade für das kardiovaskuläre und krebsbedingte Versterben bei Männern und Frauen hochrelevant war und offenbar nicht nur als unklare Assoziation, sondern als kausaler Zusammenhang zu werten ist. Diese Interpretation wird auch in Modellsystemen beobachtet und durch kleinere Interventionsstudien unterstrichen, auch wenn in diesem Zusammenhang größere randomisierte Studien in Europa noch immer fehlen. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich diese Lücke in Kürze schließen wird, da einige sehr vielversprechende Initiativen in Holland, Dänemark und Skandinavien gestartet wurden.
30% der Bevölkerung, also ca. jeder 3. Einwohner, haben einen zu niedrigen Selenstatus, was ein relevantes Gesundheitsrisiko darstellt.
Prof. Schomburg: Es wäre großartig, wenn es hierfür ein spezifisches Symptom gäbe; das ist aber leider nicht der Fall. Das ist anders als z.B. beim Jod, wo sich bei starkem Mangel eine Struma, also ein Kropf ausbildet, der sich durch eine erhöhte Versorgung auch oft wieder reversibel zurückbilden kann. Nach meiner Erfahrung ist bei Selen eine reduzierte Lebensqualität, also vornehmlich ein Energiemangel bis hin zur Fatigue, das erste spürbare und quantifizierbare Symptom.
Das unterstreichen auch die wenigen durchgeführten Interventionsstudien, wo sich die Lebensqualität bei Probanden, die ein Selensupplement bekamen, deutlich verbesserte. Allerdings ist dieses Symptom unspezifisch, da es viele potenzielle Gründe für einen niedrigen Energiestatus und eine verringerte Lebensqualität gibt. Dennoch würde es sich aus meiner Sicht lohnen, wenn es Anzeichen dafür gibt, eine Selendiagnostik durchzuführen, um sicher zu gehen, dass kein relevanter Mangel vorliegt; denn dieser ließe sich sehr einfach und kostengünstig über eine veränderte Ernährung oder ein Supplement gezielt und nebenwirkungsfrei beheben, und der Erfolg einer solchen Maßnahme kann diagnostisch zuverlässig quantifiziert und dokumentiert werden.
Ansonsten kann man aber leider sogar einen ausgeprägten Selenmangel nicht selbst eindeutig erkennen oder spüren. Das ist bedauerlich, denn sonst wäre es deutlich einfacher, dieses Problem zu adressieren. Wir wissen aus unseren vielen Studien, dass der Mangel in erster Linie ein Risikofaktor für viele zukünftige Erkrankungen darstellt und im Besonderen ein Mortalitätsrisiko ist, wenn man eine kritische Erkrankung erleidet, wie einen Unfall, eine schwere Infektion wie wir es bei COVID-19 hatten, eine Blutvergiftung oder ähnliches. In diesen Fällen wird ein vorliegender Mangel sehr relevant, denn das Immunsystem ist gefordert, und durch eine Inflammation wird die normale Biosynthese der Selenoproteine gestört.
Insofern ist dieses Thema auch für den gesunden Menschen von hoher Relevanz, der den Selenmangel aber aufgrund von unspezifischen Symptomen nicht merken kann oder nicht ernst nehmen will. Also bedarf es für die Erkenntnis dieses relevanten und weit verbreiteten Defizits der Laboranalytik. Hierzu genügt eine kleine Blutprobe, die der Hausarzt oder ein anderer Dienstleister im Gesundheitswesen an ein analytisches Labor schickt und dort bestimmen lässt. Die Analyse ist kostengünstig und muss unter gleichbleibenden Lebensumständen auch nicht häufig durchgeführt werden – persönlich würde ich denken, ein- bis zweimal im Jahr sollte ausreichen, wenn nicht eine besondere Noxe hinzukommt, wie ein Unfall, eine Infektion, eine Schwangerschaft oder ein anderes physiologisch oder psychisch stark belastendes Ereignis.
Prof. Schomburg: Eine einseitige Ernährung ist ein großer Risikofaktor, ebenso wie eine Erkrankung, die mit einer akuten oder chronischen Entzündung einhergeht. Ebenso kann ein erhöhter Bedarf z.B. im Rahmen einer Schwangerschaft zu einem schweren Selenmangel führen. Gerade in Europa, wo die Böden nur wenig biologisch verfügbares Selen enthalten, sind Vegetarier und Veganer besonders gefährdet, einen relevanten Selenmangel zu entwickeln. Nutztiere in der Landwirtschaft wie Rinder, Schweine oder Hühner, erhalten über ihr Kraftfutter gewöhnlich eine ausreichende Versorgung mit den notwendigen Spurenelementen, sodass Fleisch, Eier oder Milch relevante Selenquellen darstellen.
Verzichtet man aber auf diese tierischen Produkte, dann ist die Auswahl relativ gering. Selen tendiert wie auch Jod dazu, in den Meeren zu akkumulieren, sodass Meeresfrüchte und Fische noch eine gute Alternative sind. Ebenso gibt es manche südamerikanischen Nüsse, z.B. die Paranuss, die hohe Selenmengen enthalten kann. Aber auch hier hängt es vom Boden ab, auf dem der Paranussbaum gewachsen ist; war der Boden selenreich, so sind es die Nüsse auch, stand er aber auf einem selenarmen Boden, dann enthalten die Nüsse auch kaum oder kein Selen. Leider fehlt hier eine entsprechende Produktinformation und Kennzeichnung auf Meeresfrüchten, Algen, Paranüssen und ähnlichen potentiellen Selenquellen, die eine gezielte Ernährung erleichtern bzw. überhaupt erst ermöglichen würden. Das ist eine spezifische Problematik bei Selen, welche in dieser Form für andere Spurenelemente so nicht vorliegt und deshalb auch wenig bekannt ist.
Das Risiko des Selenmangels ist generell zu wenig bekannt, ungeachtet der sehr guten Datenlage und großen Bedeutung, denn oft sind es gerade gut gebildete, reflektierte und umweltbewusste junge Frauen, die aus vielen gut nachvollziehbaren Gründen eine pflanzenbasierte Ernährung präferieren, dabei aber leider Gefahr laufen, nur unzureichend mit Selen versorgt zu werden. Mitunter verstärkt sich der Mangel weiter, wenn sich gesundheitliche Probleme einstellen, wie eine Allergie, hartnäckige Entzündung, Infektion oder Autoimmunreaktion, weil der Selenbedarf steigt. Im Falle einer Schwangerschaft steigt das Risiko nochmals drastisch weiter an, denn plötzlich sind es zwei Individuen, die sich das unzureichend zugeführte Spurenelement teilen müssen, sodass beide – Mutter und Ungeborenes – ein zunehmendes Selendefizit mit fortschreitender Schwangerschaft erleiden.
Wir haben zusammen mit dänischen Wissenschaftlern in einer großen Observationsstudie zeigen können, dass hierdurch sowohl die Mutter als auch das Kind gefährdet werden, z.B. durch ein erhöhtes Risiko für Gestationsdiabetes der Mutter und für Autismus Spektrum Erkrankung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beim Kind. Gerade im Hinblick auf die Schwere dieser Erkrankungen ist es unbedingt ratsam, zu Beginn der Schwangerschaft und idealerweise auch einmal im Verlauf der Schwangerschaft den Selenstatus zu bestimmen und gegebenenfalls ein Supplement zu nutzen, um diese vermeidbaren Risiken zu minimieren.
Neben der Schwangerschaft sind es Patienten mit akuten oder chronischen Entzündungen, da die Zytokine die Verarbeitung des Selens aus der Nahrung in der Leber behindern. Auch Menschen mit Aufnahme- oder Barrierestörungen oder anderen Darmerkrankungen, Patienten nach Infektion, Unfall oder anderen akuten oder chronischen Noxen laufen Gefahr, ein Selendefizit zu entwickeln. Aber – wie zuvor erwähnt – deuten unsere Daten dahin, dass es in der Bevölkerung generell ca. ein Drittel der Mitmenschen betrifft, deren Mortalitätsrisiko mit dem Selendefizit assoziiert ist und die deshalb als selenarm eingestuft werden müssen. Insofern ist das Risiko eines Mangels relativ hoch, und neben dem geringen Selengehalt unserer Nahrungsmittel wird es noch weitere Gründe und Risiken für ein Defizit geben, die noch nicht alle evident und erforscht sind. Eine gezielte Diagnostik schafft hier Sicherheit.
Eine einseitige Ernährung ist ein großer Risikofaktor, ebenso wie eine Erkrankung, die mit einer akuten oder chronischen Entzündung einhergeht.
Prof. Schomburg: Dies ist eine sehr wichtige Frage, für dessen Beantwortung ich etwas ausholen muss, um das Studiendesign, welches hierfür Einblicke eröffnet hat, zu erörtern. Den höchsten Grad an Evidenz für solche kausalen Aussagen haben randomisierte kontrollierte Interventionsstudien mit einem Selensupplement und einem Plazebo, idealerweise mit einer großen Anzahl an Probanden über einen langen Zeitraum, wo weder Arzt noch Teilnehmer die Gruppenzuordnung kennt.
Hierzu gibt es aber nur wenige Beispiele, die allen diesen Anforderungen gerecht werden: einige kleinere Studien aus Europa und Asien, und ein paar große Studien aus den USA. Allerdings liefern aber gerade diese großen Studien keine hilfreichen Einsichten für uns Europäer, da es in den USA kaum Probanden mit Selenmangel gibt, im Gegensatz zu Europa, wo viele Menschen nur grenzwertig gut versorgt sind. Ursächlich hierfür ist ein fundamentaler Unterschied in der Qualität der Böden, die für die Landwirtschaft genutzt werden: während unsere Böden selenarm sind, weisen die US-amerikanischen Flächen einen vielfach höheren Selengehalt auf, sodass US-amerikanisches Gemüse, Getreide, Salate etc. schon von Natur aus eine gute Selenquelle darstellen.
In Europa gibt es nur Finnland, das auf diesen Mangel adäquat reagiert hat und seit ca. 40 Jahren konsequent die Mineraldünger für die Landwirtschaft mit Selen anreichert. Hieraus folgt auch, dass der Selenstatus typischer US-Amerikaner im Schnitt ca. zweimal so hoch liegt wie bei Europäern, sodass die oben erwähnten 30% der Bevölkerung mit mortalitätsrelevantem Selenmangel in den USA nicht zu finden sind. Daraus resultiert auch, dass die Studien aus den USA zur Bedeutung von Selen einen anderen Fokus aufweisen als bei uns, nämlich eher die Gefahr einer Überversorgung mit Vergiftungserscheinungen (sogenannte Selenose) untersuchen. Aus diesem Grund wird es diesbezüglich auch schwer, länderübergreifende Leitlinien zu konsentieren und die Ergebnisse von einem Kontinent auf den anderen zu übertragen.
Zurück zum Studiendesign und unseren Analysen. In Ermangelung großer Supplementationsstudien, bei denen mit einem Selenpräparat interveniert wird, haben wir die Möglichkeit, große prospektive Observationsstudien zu untersuchen und auszuwerten. Und hier muss man die dafür am besten durchgeführte und organisierte EPIC Studie erwähnen. EPIC steht für die European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition Studie (deutsch: europäische prospektive Studie zum Zusammenhang von Ernährung und Krebserkrankungen). Für diese Studie wurden Ende des letzten Jahrhunderts über eine halbe Million Menschen aus zehn europäischen Ländern eingeladen, sich prospektiv untersuchen zu lassen und sowohl persönliche Auskünfte zu Lebensstilfaktoren (wie Rauchen, Trinken, Sport etc.) und zur Ernährung zu geben, als auch Bioproben wie Serum und Plasma in Abständen von mehreren Jahren zur Verfügung zu stellen.
Nun können wir aus dieser großen Daten- und Probensammlung neu aufgetretene Krebsfälle identifizieren und die entsprechenden Serumproben, die vor vielen Jahren zum Zeitpunkt der Gesundheit genommen wurden, auf den Selenstatus untersuchen. Und die Größe von EPIC erlaubt, dass sich sehr ähnliche Menschen zu diesen Krebspatienten finden lassen, die aus der gleichen Region stammen, ähnlich alt, groß und gewichtig sind, und einen ähnlichen Lebens- und Ernährungsstil pflegen, aber nicht erkrankt sind. Wir analysieren dann den Selenstatus der über die Jahre erkrankten Patienten und dieser sogenannten "gematchten Kontrollen". Finden wir hierbei, dass im Durchschnitt diejenigen, die diese Krebserkrankung entwickelten, zuvor einen niedrigeren Selenstatus hatten als die gesund gebliebenen Probanden, dann lässt sich daraus nach weiteren Korrekturen ein relatives Risiko berechnen, was auf diesen Mangel zurückzuführen ist. Zeigt sich kein Unterschied im Selenstatus der Erkrankten mit den gesund gebliebenen Probanden, dann wird diese Tumorart als unabhängig vom Selenstatus eingeschätzt.
Die Hauptergebnisse dieser Analysen kann ich hier gerne kurz zusammenfassen: Überraschenderweise zeigte sich kein Zusammenhang eines Selenmangels mit dem Risiko für Brust- oder Prostatakrebs, aber sehr deutliche und starke Zusammenhänge zeigten sich zum Auftreten von Darm- oder Lebertumoren. In weiteren nach ähnlichem Muster durchgeführten Analysen mit Kollegen aus Schweden und Österreich haben wir auch die Frage untersucht, ob ein Selenmangel für das weitere Überleben mit einer Tumorerkrankung, also nach erfolgter Diagnose, relevant ist. Auch hier zeigte sich eindeutig, dass die Patienten, die zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose keinen Selenmangel aufwiesen, ein deutlich besseres Überleben zeigten als diejenigen mit Selenmangel. Also stellt der Selenmangel einen Risikofaktor für die Inzidenz, also das Neuauftreten, von bestimmten, aber nicht allen Krebserkrankungen dar, und ein guter Selenstatus ist mit besserem Krankheitsverlauf und höheren Überlebenschancen bei manifester Tumorerkrankung assoziiert.
Neben Krebserkrankungen haben wir ebenso eindeutige Ergebnisse für das Risiko von Herzkreislauf-Ereignissen, also in erster Linie Myokardinfarkt, und für das Auftreten von Autoimmunerkrankungen gefunden. Ein Selenmangel ist jeweils ein relevanter Risikofaktor für diese Erkrankungen. Ebenso gab es einen eindeutigen Zusammenhang von Selenmangel und Überlebenschance bei kritischen Erkrankungen in der Intensivmedizin, wie z.B. schweres COVID-19, Sepsis (Blutvergiftung), Polytrauma (aufgrund eines Unfalls), starken Verbrennungen oder ähnlich schwerwiegenden Verletzungen.
Prof. Schomburg: Ein potentieller Selenmangel wird generell aus einer Blutprobe bestimmt. Theoretisch kann man einen Rückschluss auf den Selenstatus auch aus einer Haarprobe oder aus Finger- oder Fußnägeln bestimmen, allerdings ist die Datenlage dazu relativ dünn und kosmetische Einflüsse wie selenhaltige Shampoos, Farbstoffe oder Lacke können hier zu einer Verzerrung führen. Im Blut zirkulieren verschiedene selenhaltige Komponenten.
Die größte Datenbasis gibt es für die Selenbestimmung aus Vollblut (also inkl. der Zellen im Blut), Serum und Plasma. Die beiden zellfreien Matrices Serum und Plasma liefern vergleichbare Werte, sind stabil und werden in klinischen Studien und für die Diagnose eines Mangels präferiert. Neuerdings lässt sich auch spezifisch das bioverfügbare Selen bestimmen. Hierzu wird der Transporter Selenoprotein P (SELENOP) im Serum quantifiziert, welcher eine sehr genaue Aussage zum Selenstatus liefert und einen Mangel eindeutig anzuzeigen vermag, ohne dass eine eventuell laufende Substitution oder Ernährungsumstellung unterbrochen werden müsste.
Diese Methode ist aber relativ neu und noch nicht flächendeckend verfügbar. Ähnlich wie bei der Bestimmung des Eisenstatus empfiehlt sich auch beim Verdacht auf Selenmangel eine umfassende Analyse, also eine Messung des Gesamtselens in Blut, Serum oder Plasma und des spezifischen Transporters SELENOP aus einer Serumprobe. Zusätzlich kann noch bei Symptomen chronischer Fatigue auf Autoimmunität gegen SELENOP getestet werden, was eine erhöhte Selenzufuhr erfordern würde, um den gestörten SELENOP-abhängigen Selentransport bei der Gegenwart von SELENOP-Autoantikörpern bestmöglich zu kompensieren.
Die größte Datenbasis gibt es für die Selenbestimmung aus Vollblut (also inkl. der Zellen im Blut), Serum und Plasma.
Prof. Schomburg: Hierauf eine kurze Antwort: ja, Selenpräparate können bei Erkrankungen adjuvant, also begleitend zur eigentlichen Therapie, eingesetzt werden. Bislang sind dabei keine negativen Auswirkungen bekannt, solange die Dosierung im Rahmen der erprobten Konzentrationen bleibt, also zwischen 50-300 Mikrogramm pro Tag. Es gab für die radioonkologische Behandlung einer Tumorerkrankung lange die Befürchtung, dass eine Selensupplementation den Erfolg einer Strahlentherapie bei Krebserkrankung verringern würde – das hat sich aber in einer Plazebo-kontrollierten Studie als nichtzutreffend erwiesen. Im Gegenteil, die Nebenwirkungen der Strahlenbelastung waren bei den supplementierten Patienten geringer als in der Plazebogruppe, die kein Selen bekam.
Eine adjuvante, also begleitende Supplementation zum Ausgleich eines Mangels (der korrekte Ausdruck wäre hier eigentlich "Substitution") wäre sicher bei vielen Erkrankungen indiziert, um das Immunsystem und damit auch die Therapien zu unterstützen und das Mortalitätsrisiko zu senken, allerdings ist die Datenlage dazu noch relativ überschaubar. Entsprechend findet sich diese Überlegung und Empfehlung nur selten in den Leitlinien.
Eine Ausnahme gibt es bei der frühen Form des Morbus Basedow, wo das Hervortreten der Augäpfel (Exophthalmus) von einer Korrektur des Selenmangels profitiert und sich dieses Symptom und die Lebensqualität nachweislich bessern können. Es ist zu hoffen, dass die Bestimmung des Selenstatus auch bei anderen Erkrankungen zur Routineanalytik wird, um einen vorbestehenden oder sich entwickelnden Selenmangel frühzeitig zu erkennen und zu korrigieren.
Die höchste Evidenz für die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens ist sicher für die Schwangerschaft gegeben, da es dort schon die Daten einer ausreichend großen plazebokontrollierten Interventionsstudie gibt, die über ein Selensupplement die postpartale Schilddrüsenerkrankungsrate deutlich reduzieren konnte. Angesichts des zunehmenden Selenbedarfs des sich entwickelnden Kindes ist hier auch das biologische Verständnis der Zusammenhänge am weitesten fortgeschritten, sodass eigentlich keine vernünftigen Gründe einer solchen Substitution eines diagnostizierten Mangels in dieser kritischen Lebensphase entgegenstehen.
Prof. Schomburg: Es gibt keine generellen wissenschaftlich begründeten Empfehlungen zur Selen-Supplementierung, denn wer keinen Mangel hat und genügend Selen über die Nahrung aufnimmt, benötigt auch kein Supplement und keine zusätzliche Zufuhr. Die Ernährungsgesellschaften der DACH-Region (Deutschland, Österreich, Schweiz) empfehlen täglich 60-70 µg, eine Menge, die etwas über dem Mindestbedarf (RDA; Recommended Dietary Allowance) von 55 µg/Tag liegt. Leider werden aber diese Werte in Deutschland im Durchschnitt nicht erreicht.
Es ist auch schwer abschätzbar, wie viel Selen unsere Nahrungskomponenten enthalten, da eine Kennzeichnung fehlt. Die großen US-amerikanischen Studien haben uns gezeigt, dass eine Supplementation in einer Dosierung von 200 Mikrogramm pro Tag keine konsistenten Gesundheitsrisiken induziert, selbst bei Probanden, die aufgrund ihres Lebensschwerpunktes in Nordamerika natürlicherweise schon mit einer höheren täglichen Aufnahme gesegnet sind als wir in Europa. Aber das sind Durchschnittserfahrungen, die nicht zwingend auf jeden Probanden zutreffen.
Höhere Dosierungen stehen im Verdacht, biochemische Signalwege zu stören und z.B. in prädisponierten Probanden eine leichte, aber messbare Erhöhung des Diabetes-Risikos zu befördern, weshalb die Empfehlung zur höchsten sicheren Aufnahme bei 300-400 µg/Tag liegt (UL; Tolerable Upper Intake Level). Andererseits haben longitudinale Studien in den USA auch gezeigt, dass ein hoher Selenstatus im Blut einen Überlebensvorteil bei bereits manifester Diabeteserkrankung vermittelt. Somit ist die Datenlage zum Diabetes mellitus hier uneindeutig und kompliziert, was auch dazu führt, dass generelle Supplementierungsempfehlungen nicht ausgesprochen werden (können).
Aber zurück zur Dosierung; angesichts der Daten aus Deutschland, dass ca. 30% einen relevanten Mangel aufweisen, sollte man sich kritisch hinterfragen, inwieweit der eigene Lebensstil und die Parameter der Ernährung und Gesundheit hier ein Risiko für einen Mangel bedingen könnten und man selbst in diese Gruppe fällt. Hierbei gibt es keine großen Unterschiede je nach Geschlecht oder Alter, aber durchaus je nach Ernährungsprofil und Grundgesundheit. Wer sich einseitig ernährt, starkem physischen oder psychischen Stress ausgesetzt ist, eine akute oder chronische Entzündung entwickelt hat oder anderweitig erkrankt ist, trägt ein höheres Risiko für einen manifesten oder sich entwickelnden Selenmangel als jemand, auf den diese Punkte nicht zutreffen.
In solch einem Fall würde ich in der Tat zu einer diagnostischen Messung und dann ggf. einer Supplementierung raten. Diese muss aber nicht täglich erfolgen, da das Hauptziel darin besteht, den Mangel sicher auszugleichen und einen guten Status zu entwickeln. Persönlich empfehle ich eine Menge von ca. 1 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag, also in meinem Fall wären das täglich ca. 80 Mikrogramm. Da ich mich aber sehr vielseitig ernähre, supplementiere ich nicht regelmäßig, messe dafür aber häufiger, welchen Selenstatus ich aktuell aufweise – dieses begründet sich aber hauptsächlich in meiner wissenschaftlichen Neugier und den Möglichkeiten, die ich habe, besonders wenn ich neue Supplemente oder potenziell selenhaltige Nahrungsmittel analysiere. Die Entscheidung, ein Supplement in die eigene Ernährung aufzunehmen, sollte aus meiner Sicht deshalb gut begründet sein, idealerweise in Absprache mit einem Experten aus der Gesundheitsversorgung, und sich an dem Ausmaß des diagnostizierten Mangels orientieren.
Persönlich empfehle ich eine Menge von ca. 1 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag...
Prof. Schomburg: Wie soeben erläutert, haben US-amerikanische Studien gezeigt, dass eine tägliche Supplementation von 200 Mikrogramm selbst bei gutem Grundstatus zu keinen konsistenten Gesundheitsrisiken führte. Allerdings sind solche Studienergebnisse Durchschnittswerte – bei persönlicher Prädisposition oder anhand genetischer oder ernährungsmäßiger Besonderheiten lässt sich die persönliche sichere Dosis nur abschätzen, nicht aber sicher festlegen. Hier wäre dann doch eine diagnostische Messung angeraten, um zu erkennen, ob man schon aufgrund der eigenen Ernährung und Lebensumstände gut versorgt ist und keines Supplements bedarf, oder aber in die Gruppe der grenzwertig gut versorgten Bundesbürger fällt oder gar einen deutlichen Mangel aufgrund erhöhten Bedarfes aufweist. Entsprechend abgestuft sollte dann auch die Supplementierung erfolgen.
Prof. Schomburg: Selen wurde ursprünglich als stinkendes, karzinogenes Gift beschrieben. In der Tat gibt es immer wieder Fälle, bei denen toxische Mengen verabreicht bzw. aufgenommen werden. Dies kann absichtlich oder bedingt durch Rechenfehler bei der Herstellung eines Supplements oder dessen Dosierung erfolgen. Es gibt Beispiele, wo eine stringente Qualitätskontrolle bei neuen Herstellern fehlte, sodass toxisch hohe Konzentrationen in den entsprechenden Präparaten vorlagen, die nicht als solche beabsichtigt oder deklariert waren.
Das gab es sowohl in der Veterinärmedizin als auch beim Menschen. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich dieses Risikos bewusst zu sein, und nicht eigenständig übermäßig hohe Dosierungen einzunehmen oder unseriöse Selenanbieter aus dem Internet auszuwählen. Hier lohnt es sich, lieber auf ein bewährtes Präparat von einem seriösen Hersteller zurückzugreifen, idealerweise in Absprache mit einem Apotheker oder einer Ärztin. Als sichere Höchstdosierung (UL; Tolerable Upper Intake Level) gelten 300-400 Mikrogramm pro Tag, je nach Empfehlungsgremium – ein Wert, der sicher seine Berechtigung hat, aber aufgrund der beschriebenen Besonderheiten eines jeden Menschen keine Allgemeingültigkeit besitzt.
Naheliegenderweise sind solche Grenzwerte gefordert, berücksichtigen aber nicht individuelle Charakteristika, wie den aktuellen Gesundheitszustand, die Lebensumstände, das Ernährungsprofil oder Körpergewicht. Der tatsächliche Bedarf und die dafür notwendige Zufuhr können sich zwischen den Individuen deutlich unterscheiden und erfordern eine differenzierte Betrachtung; denn ein sehr schlanker, junger, gesunder, sich omnivor ernährender Mensch und ein erkrankter stark übergewichtiger Diabetiker haben hier sicher einen ganz anderen Bedarf und eine andere Sensibilität bezüglich der Selenzufuhr. Die gleiche Überlegung zu einer differenzierteren Betrachtung erstreckt sich natürlich auch auf Kinder, Senioren oder während der Schwangerschaft.
Als erste Symptome einer Vergiftung (sogenannte Selenose) wird von einem fauligen Atem berichtet, denn Selen kann wie Schwefel in die gasförmige Phase als flüchtige Verbindung übergehen und abgeatmet werden. Eine schwerere und deutlichere Symptomatik zeigt sich bei chronisch übermäßiger Selenzufuhr dann an den Haaren und Fuß- und Fingernägeln, die brüchig werden und auszufallen beginnen. Glücklicherweise wird aber berichtet, dass diese Symptome reversibel sind und bei Unterbindung der weiteren überhöhten Aufnahme sich die Haare und Nägel wieder vollständig regenerieren können.
Als erste Symptome einer Vergiftung (sogenannte Selenose) wird von einem fauligen Atem berichtet...
Prof. Schomburg: Angesichts der Datenfülle zu den Gesundheitsrisiken eines Selenmangels rate ich nicht pauschal von einer Supplementierung ab; allerdings muss man sich bei allem, was man sich zuführt, bewusst sein, dass die Dosis das Gift macht. Sie können sich mit Kochsalz, destilliertem Wasser, Vitamin D oder Zink vergiften, ebenso wie mit Selen – deshalb gibt es die Empfehlungen zu den Obergrenzen der täglichen Aufnahme und die Möglichkeit der Diagnostik. Wenn ich die Entscheidung zur Supplementation treffen möchte, dann sollte ich zuvor wissen, wo ich stehe und ob ich überhaupt einer zusätzlichen Zufuhr bedarf.
Ist das nicht der Fall, dann kann ich mich glücklich schätzen und mich anderen Themen widmen. Allerdings ist der eigene Selenstatus, wie oben ausgeführt, auch abhängig von der grundlegenden Gesundheit, und ein höherer Bedarf kann sich auch dynamisch entwickeln, z.B. während chronischer Erkrankung, akuten Noxen oder – ganz relevant für zwei Menschen – während der Schwangerschaft. Hier empfehle ich dringend, sich fachkundige Hilfe zu suchen und die eigene Nährstoffzufuhr den steigenden Bedürfnissen anzupassen, um nicht durch die Dynamik des Prozesses in einen Mangel zu laufen und entsprechende Gesundheitsrisiken für Mutter und Kind zu übersehen.
Prof. Schomburg: In unserer Ernährung findet sich Selen überwiegend in Form der ansonsten schwefelhaltigen Aminosäuren Cystein und Methionin, also dann als Selenocystein und Selenomethionin, wo jeweils das Schwefelatom durch ein analoges Selenatom ersetzt ist. Zudem gibt es anorganische Salze wie das genannte Natriumselenit und Natriumselenat. Allen Formen ist gemeinsam, dass der Mensch sie als Selenquelle nutzen kann. Meines Wissens gibt es noch keine vergleichenden wissenschaftlichen Studien, die beide Formen parallel eingesetzt haben, um zu entscheiden, welches Supplement nun die besseren gesundheitlichen Wirkungen entfaltet, und ob das eine dem anderen vorgezogen werden sollte. Im klinischen Einsatz sind die Erfahrung mit Natriumselenit größer, da es auch als Präparat für die intravenöse Gabe verfügbar und zugelassen ist. Ebenso ist die langfristige Stabilität eines Salzes natürlich höher als die einer Aminosäure, wohingegen die Aminosäuren unsere natürlichen Quellen darstellen. Es gibt somit gute Argumente für beide Formen.
Prof. Schomburg: Selen ist kein klassisches Medikament, wie z.B. die Schilddrüsenhormone, die gewöhnlich früh morgens auf nüchternen Magen genommen werden, sondern ein Bestandteil der Ernährung. Insofern erscheint es unerheblich, ob es morgens, mittags oder abends, isoliert oder mit anderen Nahrungsmitteln zusammen aufgenommen wird. Mitunter wird empfohlen, bei der Aufnahme auf aktive Oxidantien oder reduzierende Substanzen zu verzichten, wie z.B. Vitamin C – hierzu liegen aber keine relevanten Humanstudien vor, sodass der Tageszeitpunkt und die Einnahme mit oder ohne Mahlzeit für die Selensupplementation als irrelevant erscheint.
Prof. Schomburg: Die Bioverfügbarkeit von organischen und anorganischen Selenpräparaten ist generell sehr hoch, solange der Darm und der Organismus gesund sind. Problematisch ist eher die anabole Reaktion der Hepatozyten, also die Nutzung des zugeführten Selens durch die Leber, da die Biosynthese des Transportproteins SELENOP durch inflammatorische Zytokine, Leberentzündung oder Hypoxie stark beeinträchtigt werden kann. Eine Supplementation mit Selenomethionin wirkt hiervon erstmal unabhängig, da die Aminosäure zunächst in alle Proteine anstelle des normalen Methionins eingebaut werden kann und so ein gewisses Reservoir bildet.
Allerdings ist dieser Prozess nicht limitiert, sodass es zu sehr hohen Akkumulationen kommen kann. Selenit hingegen wird direkt für die Biosynthese von Selenoproteinen genutzt und kann nicht akkumulieren. Das reduziert die Gefahr der Übersupplementation, erfordert aber auch eine regelmäßigere Zufuhr. Wiederum zwei Aspekte, die je nach Gesundheitsstatus und Persönlichkeit für die Auswahl des Supplements bedacht werden können. Schließlich wurden kürzlich auch noch Autoimmunreaktionen gegen SELENOP beschrieben, die den gerichteten Transport des Selens stören können. Diese Umstände können einen höheren Bedarf bedingen, der sich über eine entsprechende Diagnostik erfassen lässt und eine gezielte Supplementation erfordern.
Die Bioverfügbarkeit von organischen und anorganischen Selenpräparaten ist generell sehr hoch, solange der Darm und der Organismus gesund sind.
Prof. Schomburg: Es ist wichtig, wenn eine Supplementation angestrebt wird, ein gutes Selenpräparat auszuwählen. Gut heißt in diesem Zusammenhang, dass die Konzentration stimmt – deshalb, da es in der Vergangenheit gerade bei neuen Präparaten mitunter zu Problemen der Qualitätskontrolle gekommen ist, würde ich zu einem seriösen Hersteller mit guter Reputation raten, der idealerweise schon länger am Markt aktiv ist und mit einer informativen Präsenz im Internet die Chancen und Risiken einer Supplementation wissenschaftlich fundiert und ausgewogen in einer verständlichen Sprache für den Konsumenten und interessierte Gesundheitsdienstleistende darstellt. Von Multivitamin- und Spurenelementpräparaten rate ich ab, da wir bei einer abwechslungsreichen Ernährung die meisten Komponenten nicht benötigen, Studien keine nennenswerten Vorteile beobachtet haben, und ungünstige Interaktionen zwischen den einzelnen Komponenten nicht ausgeschlossen werden können.
Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Selenpräparaten, den Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) und den Arzneimitteln. NEM dienen der Ergänzung der Ernährung und sind nicht für die Behandlung von Krankheiten bestimmt, während Arzneimittel zur Heilung, Linderung oder Vorbeugung von Krankheiten zugelassen sind. Deshalb werden NEM auch weniger streng kontrolliert und sind kostengünstiger, während Arzneimittel strengen Zulassungs- und Produktionsrichtlinien unterliegen.
Bei Arzneimitteln kann man sich folglich auf die Qualität und die angegebene Konzentration verlassen, während es bei NEM leider auch qualitativ minderwertige und falsch deklarierte Präparate gibt. Es ist in jedem Fall empfehlenswert, die eigene Selenzufuhr mit einer Diagnostik zu begleiten. So kann man sichergehen, dass sich mit der Einnahme eines Präparates der Selenstatus bessert, und man findet mit der Zeit seinen individuellen Selenbedarf, um die Expression der essenziellen Selenoproteine auch ausreichend zu unterstützen.
Prof. Schomburg: Das Spurenelement ist leider in unseren Böden nur geringgradig vorhanden bzw. verfügbar, sodass gerade regionale Feldfrüchte durchgehend selenarm sind. Es gibt Berichte, dass einige Nüsse (gerade aus Südamerika) und einige Pilze eine gute Konzentration aufweisen, was aber leider nicht generell der Fall ist und wozu es auch keine gesicherten Informationen oder quantitative Mengenangaben gibt. Hier wäre eine Kennzeichnung sehr hilfreich, die aber aufgrund der Heterogenität der Herkunft dieser Nahrungsmittel und der entsprechenden Böden, auf denen sie gewachsen sind, nicht machbar erscheint.
Insofern ist es eine schwierige Aufgabe, als Veganerin oder Vegetarier den eigenen Selenbedarf sicher zu decken. Generell tendiert Selen wie Jod ins Meer, sodass Algen, Seegras, Meeresfrüchte und Hochseefische gute Selenquellen sind. Allerdings fehlt auch hier die Kennzeichnung, und manche dieser Produkte können zwar hohe Selengehalte aufweisen, aber mitunter auch, gerade am Ende der Nahrungskette, zusätzlich mit Schwermetallen vergesellschaftet sein.
Als Lösung sehe ich hier drei mögliche Varianten: es gibt zunehmend spezifisch selenangereicherte Nahrungsmittel, wie z.B. selenhaltiges Kochsalz oder selenreiche Äpfel, denen das Spurenelement während des Wachstums am Baum zugesetzt wird (z.B. der sogenannte Selstar, eine Elstar-Variante). Solche Produkte werden zunehmend produziert, gerade in den Regionen, wo der Selenmangel endemisch ist, wie z.B. in Zentralasien oder Zentralafrika. Wie gut solche Varianten von den deutschen Konsumenten angenommen werden, ist derzeit das Ziel entsprechender Studien.
Alternativ kann man die Ernährung möglichst vielseitig gestalten und gerade Produkte aus dem Meer und potenziell selenhaltige Nüsse und Pilze bevorzugt mit in den Speiseplan aufnehmen; allerdings unter der angesprochenen Problematik der fehlenden Kennzeichnung und der entsprechend folgenden Unsicherheit zum Selengehalt. Wenn ein begründeter Verdacht eines Selenmangels vorliegt, dann erscheint die gezielte Supplementation mit einem definierten Präparat die Methode der Wahl, idealerweise in Kombination mit einer analytischen Diagnostik und in Rücksprache mit einem Dienstleister im Gesundheitswesen.
Auch wenn nach meiner Erfahrung dort das Wissen um Selen häufig noch ausbaufähig ist – aber gerade solche Interviews wie dieses tragen hoffentlich dazu bei, noch bestehende Vorbehalte und Wissenslücken zu füllen. Zu diesem Zweck findet sich am Ende dieses Interviews auch die entsprechende Primärliteratur zu den hier angesprochenen Studien und Forschungsergebnissen, damit die hier getroffenen Aussagen transparent sind und auch kritisch überprüft und hinterfragt werden können.
Alternativ kann man die Ernährung möglichst vielseitig gestalten und gerade Produkte aus dem Meer und potenziell selenhaltige Nüsse und Pilze bevorzugt mit in den Speiseplan aufnehmen...
Prof. Schomburg: Als ich zur Jahrtausendwende in die Selenforschung hineingeriet, war ich sehr skeptisch und erachtete die Bedeutung der Selenoproteine eher als gering an. Diese negative Voreingenommenheit musste ich im Laufe der Jahre korrigieren, denn unsere Mausmodelle zeigten starke Phänotypen, die kausal auf diese kleine Familie der Selenoproteine zurückzuführen war. Hinzu kamen das wachsende Interesse und die Forschungsaktivitäten weltweit an diesem Thema, von exzellenten Kollegen, die gemeinsam in die gleiche Richtung der hohen Relevanz von Selen zeigten.
Daran anschließend verfeinerte mein Team die Selenanalytik auf einem hohen Qualitätsniveau, sodass wir mit großartigen klinischen Kollegen und Wissenschaftlern zusammenarbeiten konnten, die eigene Studien durchführten und uns für die Analysen einluden, ihre Serumproben zu vermessen. Das haben wir mit Enthusiasmus und Erfolg gerne gemacht, und das prägt auch heute noch die Forschung meiner Arbeitsgruppe an der Charité in Berlin.
Wir konnten die breite Relevanz des Selenmangels für viele grundlegenden Erkrankungen unserer Gesellschaft aufzeigen, Risikogruppen für einen Mangel identifizieren und eine Abschätzung der Prävalenz des Selenmangels in unserer Bevölkerung vornehmen. Die Eindeutigkeit und Einheitlichkeit der Befunde haben uns überrascht. Wir sehen unsere Aufgabe nun vermehrt darin, über die Risiken des Selenmangels aufzuklären und sichere und zuverlässige Wege aufzuzeigen, den eigenen Status zu bestimmen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Meine derzeitigen Lieblingsthemen sind aufgrund ihrer enorm hohen Bedeutung der Zusammenhang von Selenmangel und Energiemangel, der zur Fatigue beitragen kann, und das hohe gesundheitliche Risiko von werdenden Müttern und ungeborenen Kindern bei einer Schwangerschaft unter unzureichender Selenversorgung. Die Korrektur dieses vermeidbaren Risikos für Mutter und Kind durch ein geeignetes Supplement ist von höchster Dringlichkeit, Relevanz und eine absolut kosteneffiziente Maßnahme – gerade im Hinblick auf die Risiken für schwere lebenslange Defizite und Erkrankungen, die sich im Mangel während der Schwangerschaft bei beiden beteiligten Individuen entwickeln können.
Hier dürfen wir die werdenden Mütter und jungen Mitbürger nicht im Stich lassen, sondern müssen für eine bessere Betreuung, Diagnostik und Versorgung während dieser kritischen Phase des Lebens sorgen. Sollte ich den Tag noch erleben dürfen, wo der Selenstatus wie der Jodstatus auch als hochrelevant für eine gesunde Schwangerschaft Eingang in die entsprechenden Richtlinien findet, dann wäre es ein guter Tag und ich würde mich ein stückweit gelassener zurücklehnen dürfen. Im Moment ist dieses Ziel aber leider noch nicht erreicht. Insofern – vielen Dank für diese vielen hochrelevanten Fragen, die Sie mir gestellt haben und die Möglichkeit, diese in all der gebotenen Detailtiefe beantworten zu dürfen!
Danke Ihnen für das Interview!
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Letzte Aktualisierung am 29.07.2025.