Fibromyalgie ist eine komplexe Erkrankung, die sich durch chronische Schmerzen auszeichnet. Sie wird schulmedizinisch durch Anamnese, körperliche Untersuchung und den Ausschluss anderer Krankheiten diagnostiziert. In der ganzheitlichen Medizin werden zusätzlich seelische Belastungen und biografische Faktoren berücksichtigt. Naturheilkundliche Therapien wie Bewegung, Ernährung, Hydrotherapie und pflanzliche Mittel zielen darauf ab, das vegetative Nervensystem zu regulieren und die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren. Dabei spielt auch die Darmgesundheit eine zentrale Rolle, da ein gestörtes Mikrobiom über die Darm-Hirn-Achse Schmerzen beeinflussen kann. Ergänzend helfen Maßnahmen wie Heilfasten, Techniken zur Stressreduktion, eine gezielte Nährstoffversorgung und ein bewusster Lebensstil, um die Symptome langfristig zu lindern.
Dr. Müller: Das Fibromyalgiesyndrom ist mittlerweile eine anerkannte Diagnose aus dem rheumatischen Formenkreis. Zur Anamnese eines typischen Symptomkomplexes mit Schmerzen oder Berührungsempfindlichkeit in verschiedenen Körperregionen (Kiefer, Schultern, Arme, Beine, gesamter Wirbelsäulenbereich, Brust oder Bauch) gehören auch weitere Beschwerden wie Tagesmüdigkeit, Gedächtnisprobleme oder ein nicht erholsamer Schlaf. Diese Kriterien werden in einem Punkte-Score gesammelt. Der Anamnese schließt sich eine körperliche Untersuchung an sowie ein Basislabor, um andere körperliche Erkrankungen auszuschließen.
Aus naturheilkundlicher ganzheitlicher Sicht ist immer ein Screening auf seelische Belastungsfaktoren wichtig. Hierbei geht es um aktuell bestehende Stressbelastungen, z.B. im Beruf oder Familie. Aber auch biografische Belastungen in der Kindheit, Jugend oder im jungen Erwachsenenalter können Auswirkungen auf das heutige Schmerzerleben haben.
Dr. Müller: Bei einer Behandlung mit den klassischen Naturheilverfahren handelt es sich um eine Reiz-Reaktions-Therapie. Durch einen wiederholten Reiz auf den Körper wird eine Reaktion ausgelöst, die zu Regulationsvorgängen im Körper führt. Ein praktisches Beispiel ist z.B. das Saunieren. Ein erstmaliger Saunagang (Reiz) stellt zunächst eine große Belastung für den Körper dar. Wenn man es übertreibt, kann es zu Blutdruckabfällen mit Schwindel kommen (Reaktion). Geht man regelmäßig in die Sauna, reguliert sich der Körper im Laufe der Zeit und man kann die Saunagänge anschließend besser vertragen (Regulationsvorgang).
Zu den klassischen Naturheilverfahren gehören Bewegungstherapie, warme und kalte Wasseranwendung (Hydro-/Thermotherapie), Ernährungstherapie, Phytotherapie und die Ordnungstherapie. Dabei geht es z.B. darum, gut für sich selbst zu sorgen und einen sinnvollen Umgang mit der eigenen Erkrankung zu finden.
Bei einer Behandlung mit den klassischen Naturheilverfahren handelt es sich um eine Reiz-Reaktions-Therapie.
Dr. Müller: Wir wissen heute, dass das Mikrobiom ca. 1,5 kg schwer ist und die Anzahl der Darmbakterien die der menschlichen Körperzellen übersteigt. Das Mikrobiom trainiert unser Immunsystem, reguliert unsere Verdauung, hat einen Einfluss auf den Energiehaushalt und die Darmbeweglichkeit und stellt sogenannte kurzkettige Fettsäuren und Vitamine her, die unsere Darmschleimhaut ernähren.
Liegen Verdauungsstörungen wie Blähungen, Durchfall oder Verstopfung vor (und
das ist bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom häufig der Fall), ist das Mikrobiom oftmals gestört und es kommt zu minimalen Entzündungen im Bereich der Darmschleimhaut, die aber beispielsweise durch eine Darmspiegelung nicht nachweisbar sind. Hierdurch kann das vegetative Nervensystem gereizt werden, was über die Darm-Hirn-Achse auch Auswirkungen auf unser Gehirn haben kann und beispielsweise Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung nehmen kann.
Dr. Müller: Viele Patienten beklagen Verdauungsbeschwerden, ohne dass eine organische Ursache in den internistischen Untersuchungen gefunden wird. Klassischerweise wird dann die Diagnose eines Reizdarmsyndroms gestellt. In diesem Falle kann man meist davon ausgehen, dass eine Störung des Mikrobiom vorliegt. Es gibt Labore, die als Selbstzahlerleistung Stuhluntersuchungen hinsichtlich des Mikrobioms und bestimmten Entzündungsmarkern im Stuhl durchführen.
Dr. Müller: Die Förderung einer gesunden Darmflora kann langfristig nur durch eine gesunde vielfältige Ernährung erfolgen. Sie sollte ballaststoffreich sein (30-35 g Ballaststoffe pro Tag), das heißt, man sollte auf Vollkornprodukte achten, die empfohlenen 5 Portionen Obst und Gemüse am Tag zu sich nehmen und möglichst auf convenience food/Fast Food/hochverarbeitete Lebensmittel verzichten. Die Zufuhr von Gemüse sollte möglichst vielfältig und bunt sein.
Auch ein Übermaß an proteinreicher Nahrung kann zu einer Dysbalance des Mikrobiom führen. Sinnvoll ist auch, fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut, Kefir, Naturjoghurt in den Speiseplan einzubauen, da hier Milchsäurebakterien enthalten sind, die eine gesunde Darmflora unterstützen. Es existieren auch eine Vielzahl an probiotischen Nahrungsergänzungsmitteln. Diese können aber eine gesunde vielfältige Ernährung nicht ersetzen. Sinnvoll kann es aber sein, Ballaststoffe in Form von Flohsamenschalen oder Akazienfasern zusätzlich zur gesunden Ernährung zu sich
zu nehmen, um die Ballaststoffmenge zu erhöhen.
Die Förderung einer gesunden Darmflora kann langfristig nur durch eine gesunde vielfältige Ernährung erfolgen.
Dr. Müller: In den Leitlinien für das Fibromyalgiesyndrom wurde die Assoziation mit einem Vitamin D-Mangel aber auch Lebensstilfaktoren, wie Nikotinkonsum oder körperliche Inaktivität, beschrieben. Hinsichtlich anderer Nährstoffe ist die Studienlage nicht eindeutig, sodass eine generelle Zufuhr von Nahrungsergänzungsmitteln nicht empfohlen werden kann. Auch die Gabe von Vitamin D sollte nur nach Spiegelbestimmung im Blut erfolgen.
Dr. Müller: Gemäß den Behandlungsleitlinien bei Fibromyalgiesyndrom sind chemisch definierte Medikamente, wie z.B. Ibuprofen, Diclofenac, Paracetamol und morphinhaltige Schmerzmittel nur in Ausnahmefällen indiziert. Selbst bei einem schweren Fibromyalgiesyndrom sollten sie nach 6 Monaten wieder abgesetzt werden. Für die Einnahme von neurologischen Medikamenten, die die Wahrnehmung der Schmerzen verändern (Amitryptilin, Pregabalin, Duloxetin), gibt es nur eine geringe Evidenz und eigentlich keine Zulassung in Deutschland für das Fibromyalgiesyndrom.
Daher bieten sich pflanzliche Alternativen an. Hierzu zählt z.B. ein Mischpräparat aus Eschenrinde, Zitterpappelrinde und -blättern und Goldrutenkraut, das in Tropfenform eingenommen wird. Auch die Einnahme von Weidenrindenextrakt, ein pflanzlicher Vorläufer der Acetylsalicylsäure, kann die Schmerzen ggf. reduzieren. In unserer Klinik für Naturheilkunde in Hattingen/Blankenstein haben wir in den 28 Jahren des Bestehens der Klinik allerdings die Erfahrung gemacht, dass vor allem Stresssystem-modulierende pflanzliche Arzneimittel wie z.B. Passionsblumenextrakt, Baldrianwurzelextrakt oder Lavendelölextrakt über eine Regulation des vegetativen Nervensystems über Beeinflussung der Darm-Hirn-Achse deutlich zu einer Schmerzlinderung beitragen.
Dr. Müller: In unserer hoch industrialisierten Gesellschaft ist es kaum möglich, keine
Schadstoffe mit der Ernährung zu sich zu nehmen. Da Nahrungsmittel in der Regel ständig verfügbar sind, haben wir auch keine "natürlichen" Hungerphasen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass erst bei einer Nahrungskarenz über 13 Stunden Dauer, die Selbstreinigungsprozesse des Körpers aktiviert werden. Aus naturheilkundlicher Sicht kommt es ohne regelmäßige Selbstreinigungsprozesse zu einer Ablagerung der Schadstoffe im Bindegewebe, was zu einer Schmerzverschlechterung beitragen kann. Wir empfehlen daher zwischen Abendessen und Frühstück keine Nahrung zu sich zu nehmen.
In unserer hoch industrialisierten Gesellschaft ist es kaum möglich, keine
Schadstoffe mit der Ernährung zu sich zu nehmen.
Dr. Müller: In unserer Klinik für Naturheilkunde setzten wir gerne eine Heilfastentherapie nach Buchinger ein. Hierbei erhalten die Patienten nur Gemüsesäfte und Gemüsebrühe über einen definierten Zeitraum von 5-7 Tagen zu essen. Begleitend erhalten die Patienten ausleitende Verfahren wie Darmeinläufe, Leberwickel und Frischpflanzenpresssäfte aus Birke, Brennnessel und Löwenzahn zur Anregung der Entgiftungsfunktion von Nieren und Leber. Es hat sich gezeigt, dass es hierdurch zu einer anhaltenden Schmerzlinderung über 4-6 Monate kommen kann.
Dr. Müller: Generell favorisieren wir eine überwiegend Gemüse-, Obst- und ballaststoffhaltige vollwertige Kost. Die Nahrungsmittel sollten möglichst frisch und naturbelassen zu sich genommen werden. Vollkornprodukten ist gegenüber Weißmehlprodukten der Vorzug zu geben. Fleisch und Fisch sollten höchstens 2x wöchentlich auf dem
Speiseplan stehen. Gepökeltes Fleisch und Wurstwaren sind zu meiden, Joghurt und
Käse sollten in Maßen verzehrt werden. Durch diese Ernährungsform wird das Mikrobiom durch den hohen Ballaststoffgehalt unterstützt. Durch eine nicht übermäßige Proteinzufuhr werden die im Bindegewebe befindlichen Proteoglykane positiv moduliert, die für den Aufbau, Abbau und Umbau des Gewebes zuständig sind.
Dr. Müller: Bei akuten Verletzungen ist der Schmerz ein Warnsignal des Körpers und zeigt Gefahr an. Eine normale Reaktion ist die Schonung des betroffenen Körperteils, z.B. bei einem Armbruch. Leidet man jedoch unter chronischen Schmerzen, so ist Schonung gerade die falsche Vorgehensweise. Chronische Schmerzen kommen durch ein verändertes Schmerzgedächtnis im Gehirn zustande und zeigen in der Regel keine akute Gefahr im schmerzenden Körperteil an. Daher ist die starke Empfehlung für Patienten mit chronischen Schmerzen, sich mehrmals pro Woche in mäßiger Intensität körperlich zu betätigen.
Beispielsweise kann man 3-4 mal wöchentlich 30 Minuten Spazierengehen, Walken, Schwimmen gehen oder Radfahren. Beliebt ist auch Wassergymnastik, da hier das Körpergewicht keine Rolle spielt. Das Wissen alleine reicht natürlich nicht, man muss die Bewegung in den Alltag integrieren. Hier können feste Terminvereinbarung mit Sportgruppen oder Freunden hilfreich sein.
Leidet man jedoch unter chronischen Schmerzen, so ist Schonung gerade die falsche Vorgehensweise.
Dr. Müller: In der Klinik für Naturheilkunde in Hattingen/Blankenstein werden begleitend zur naturheilkundlichen Komplexbehandlung in Einzelfällen osteopathische Verfahren, wie Craniosakrale Therapie, und regelmäßig auch Akupunktur und Schröpfkopfmassage eingesetzt. Viele Patienten berichten von einer deutlichen Beschwerdeverbesserung.
Dr. Müller: Frühkindliche Traumata können zu Veränderungen im Gehirn führen, sodass im Erwachsenenalter Schmerzen verstärkt wahrgenommen werden und sich ein chronisches Schmerzsyndrom entwickeln kann. Insbesondere aktuell erlebter Stress und emotionale Belastungen führen häufig zu einer Verschlechterung des bereits bestehenden chronischen Schmerzsyndroms durch mögliche Reaktivierung alter Verhaltensmuster.
Eine naturheilkundliche Komplexbehandlung setzt einerseits auf der körperlichen Ebene an, indem mit Bewegungsübungen, Ernährungsumstellung, pflanzlichen Medikamenten und hydro-thermo-therapeutischen Anwendungen (Moorpackungen, Ingwerwickel, Leberwickel etc.) der Körper behandelt wird. Andererseits wird in Gruppenvorträgen, Entspannungsgruppen und auch in ordnungstherapeutischen Einzelgesprächen auf den Umgang mit aktuellen und biografischen Belastungen eingegangen. Ein wesentliches Augenmerk liegt auf dem subjektiven Stresserleben und den Erlernen eines resilienten Stressumgangs.
Dr. Müller: Für jeden Menschen mit einer chronischen Erkrankung ist es wichtig, einen guten Umgang mit der eigenen Lebenssituation und den Einschränkungen, die das mit sich bringen kann, zu finden. Neben der bereits erwähnten naturheilkundlichen vollwertigen Ernährung und moderatem Bewegungstraining gehört dazu auch, seine Freizeit aktiv zu gestalten und z.B. seinen Hobbys nachzugehen und soziale Kontakte zu pflegen. Manchmal kann es auch wichtig sein, sich von den Problemen anderer besser abzugrenzen und auch mal "Nein" sagen zu können.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 18.07.2025.