Während sich die Schulmedizin bei Long-COVID stark an Leitlinien und großen Studien orientiert, stellt die funktionelle Medizin Ursachenforschung und individuelle Behandlungsansätze in den Vordergrund. Long-COVID zeigt ein breites Spektrum an Symptomen wie Fatigue, kognitive Störungen, Kreislaufprobleme und Schmerzen. Als Leitsymptom gilt die postexertionelle Malaise (PEM). Die Ursachen sind vielfältig und umfassen unter anderem Immunfehlregulationen, persistierende Virusreste, Entzündungen, Mikrogerinnsel und mitochondriale Dysfunktionen, die individuell unterschiedlich ausgeprägt sind. Ein typischer funktioneller Behandlungsplan ist phasenweise aufgebaut, kombiniert schulmedizinische, naturheilkundliche und funktionelle Ansätze und wird kontinuierlich an die Symptome, die Belastbarkeit und den Therapieverlauf angepasst.
Dr. Schultheiß: Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach – denn beide Sichtweisen verfolgen im Kern das gleiche Ziel: den Patienten zu helfen. Und es gibt viele Überschneidungen. In der integrativen Medizin, wie ich sie praktiziere, verbinde ich bewusst Elemente aus beiden Bereichen – denn ich halte es nicht für sinnvoll, bestimmte Ansätze grundsätzlich auszuschließen.
Zusammengefasst: Während die Schulmedizin nach einheitlichen, wissenschaftlich geprüften Therapien sucht, setzt die funktionelle Medizin auf individuelle, ursachenorientierte und ganzheitliche Ansätze. Das gelingt nicht immer vollständig – aber es ist ein Weg, der vielen Betroffenen spürbar hilft. Auch wenn die Forschung noch viele Fragen offen lässt, gibt es schon heute vielversprechende Möglichkeiten, die im Behandlungsalltag sinnvoll eingesetzt werden können.
Dr. Schultheiß: Die Abgrenzung zwischen Long-COVID und dem Post-Vac-Syndrom ist in der klinischen Praxis nicht immer eindeutig, da sich beide Erkrankungen in ihren Beschwerden stark ähneln. Dennoch gibt es bestimmte Unterschiede – sowohl im zeitlichen Ablauf als auch in den zugrunde liegenden Mechanismen.
In der Realität ist die Lage oft nicht so eindeutig: Viele Patienten berichten über Beschwerden sowohl nach einer Infektion als auch nach einer Impfung. Deshalb ist es
wichtig, alle möglichen Auslöser ernst zu nehmen – unabhängig von der exakten
Diagnose. Die körperlichen Prozesse überschneiden sich oft, und auch die Behandlungsansätze ähneln sich bei beiden Krankheitsbildern.
Der zeitliche Zusammenhang ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal.
Dr. Schultheiß: Das klinische Bild des Post-COVID-Syndroms ist ausgesprochen heterogen (vielgestaltig). Typischerweise tritt eine Kombination aus Fatigue (krankhafte Erschöpfung), Belastungsintoleranz (auch postexertional malaise, kurz PEM genannt – eine Verschlechterung nach körperlicher oder geistiger Anstrengung), neurokognitiven Störungen (z. B. Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, auch als "Brain Fog" bezeichnet), dysautonomen Beschwerden (Störungen des autonomen Nervensystems wie Schwindel oder Kreislaufprobleme beim Aufstehen) und Schlafstörungen auf.
Zusätzlich werden häufig Kopfschmerzen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Kribbelgefühle oder Taubheit, Atemnot, Brustschmerzen, Herzklopfen sowie psychische Symptome wie Angstzustände oder depressive Verstimmungen berichtet. Als häufige Begleiterkrankungen treten insbesondere das posturale Tachykardiesyndrom (PoTS) und das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) auf.
Besonders hervorzuheben ist die postexertionelle Malaise (PEM) – eine ausgeprägte Zustandsverschlechterung nach bereits geringer körperlicher oder geistiger Belastung. Ein solcher "Crash" kann zu einer langanhaltenden oder sogar dauerhaften Verschlechterung führen. Betroffene beschreiben einen typischen Push-Crash-Kreislauf, der durch Überlastung ausgelöst wird und in eine anhaltende Abwärtsspirale münden kann. PEM gilt als Leitsymptom für das Post-COVID-Syndrom und die chronifizierte Form ME/CFS und ist auch in die klinische Falldefinition der WHO aufgenommen worden. Rückfälle nach Infekten, körperlicher Überanstrengung oder psychischem Stress sind häufig.
Je nach individueller Ausprägung können unterschiedliche Organsysteme im Vordergrund stehen: Bei einigen dominieren neurologische Beschwerden (z. B. Brain Fog, Schlafstörungen, PoTS), bei anderen Herz- und Lungensymptome (z. B. Atemnot, Herzrasen), bei wieder anderen stehen chronische Schmerzen, Verdauungsbeschwerden oder Zeichen einer Immunsystem-Fehlregulation im Vordergrund. Die Symptome können dauerhaft bestehen oder wellenartig auftreten und sich im Verlauf verändern. Die funktionelle Einschränkung reicht von leichtem Leistungsverlust bis hin zur völligen Pflegebedürftigkeit – viele Patienten sind langfristig nicht mehr in der Lage, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen.
Dr. Schultheiß: Warum einige Menschen ein Post-COVID-Syndrom entwickeln, ist bislang nicht vollständig geklärt. Es mehren sich jedoch Hinweise darauf, dass individuelle Veranlagungen eine zentrale Rolle spielen. Dazu zählen genetische Faktoren (z. B. bestimmte HLA-Typen), eine vorbestehende Störung des Immunsystems, chronische Entzündungen oder Vorerkrankungen wie das Mastzellaktivierungssyndrom, Autoimmunerkrankungen oder Störungen des autonomen Nervensystems (z. B. der Kreislaufregulation). Auch geschlechtsspezifische Unterschiede – etwa die höhere
Häufigkeit bei Frauen – sowie psychosoziale Belastungen wie chronischer Stress könnten die Anfälligkeit (Vulnerabilität) erhöhen.
Die derzeit diskutierten zentralen Krankheitsmechanismen umfassen:
Diese Prozesse können einzeln oder gemeinsam auftreten und werden durch die SARS-CoV-2-Infektion ausgelöst oder verstärkt. Sie erklären die große Bandbreite der Symptome und den oft sehr unterschiedlichen Krankheitsverlauf bei Long-COVID.
Dr. Schultheiß: Die sogenannte Spikeopathie – also die durch das SARS-CoV-2-Spike-Protein ausgelöste pathologische Wirkung – stellt ein zentrales Puzzleteil in der Pathogenese von Long-COVID und möglicherweise auch des Post-Vac-Syndroms dar. Dabei geht es nicht nur um die Wirkung des Spike-Proteins während der akuten Infektion, sondern vor allem um die Persistenz von Spike-Fragmenten in verschiedenen Geweben, insbesondere in Immunzellen wie Monozyten, die noch Monate nach der Infektion nachweisbar sein können. Das Spike-Protein besitzt eine biologisch aktive Wirkung: Es kann unter anderem ACE2-bindende Funktionen, prokoagulatorische Effekte, endotheliale Dysfunktion und Immunaktivierung auslösen.
Persistierende Spike-Fragmente könnten über diese Mechanismen eine dauerhafte Entzündungsreaktion, eine Störung der Gefäßfunktion und Autoimmunprozesse triggern. Darüber hinaus weisen Studien darauf hin, dass bestimmte Regionen des Spike-Proteins superantigenartige Eigenschaften haben könnten, was zu einer starken Aktivierung von T-Zellen und damit zu einer anhaltenden Störung des Immunsystems führen kann. Diese Prozesse könnten sowohl das Post-COVID-Syndrom als auch das Post-Vac-Syndrom mitverursachen – wobei unklar bleibt, ob dieselben oder unterschiedliche Varianten des Spike-Proteins beteiligt sind (z. B. aus Impfstoff oder Virus).
Die Persistenz von Spike-Proteinen gilt daher als ein möglicher Treiber für chronische Entzündungen, Gefäßschäden, Mastzellaktivierung, Autoimmunität und möglicherweise auch für die Störung der Mitochondrien, die mit Fatigue und Belastungsintoleranz (PEM) assoziiert ist.
Dr. Schultheiß: Es existiert kein spezifischer Laborwert, der das Post-COVID-Syndrom eindeutig diagnostizieren oder ausschließen kann. Die Diagnose ist und bleibt eine klinische, basierend auf Anamnese, Leitsymptomen und dem Ausschluss anderer
Ursachen. Die Forschung zu spezifischen Biomarkern steckt noch in den Anfängen. Trotzdem gibt es eine Vielzahl an Laborparametern und bildgebenden Verfahren, die individuell und symptomorientiert erhoben werden können – je nachdem, welche Beschwerden im Vordergrund stehen, welche Vorerkrankungen bestehen oder welche pathophysiologischen Hypothesen im Raum stehen.
Dazu zählen unter anderem serologische Tests (z. B. Antikörper gegen SARS-CoV-2), immunologische und inflammatorische Marker, Hinweise auf Mastzellaktivierung, Autoimmunparameter, Gerinnungsdiagnostik, Hinweise auf virale Reaktivierung (z. B. EBV) oder – in Speziallaboren – auch funktionelle Tests wie etwa zur Mikrogerinnselbildung. Auch bildgebende Verfahren wie Kardio-MRT oder OCT können gezielt eingesetzt werden.
Ziel dieser Diagnostik ist nicht der Beweis für ein Post-COVID-Syndrom an sich, sondern vielmehr die Identifikation behandelbarer Teilaspekte – zum Beispiel eine Immundysregulation, persistierende Entzündungen, vaskuläre Veränderungen oder neuroinflammatorische Prozesse. Es gilt ebenfalls, dass es nicht den einen richtigen Laborwert gibt, der unbedingt abgenommen werden muss, sondern viele unterschiedliche Optionen, die gleichwertige diagnostische Hinweise liefern. Welche davon zum Einsatz kommen, sollte sich immer an der individuellen Symptomatik und Anamnese und auch den Erfahrungen des Untersuchers orientieren.
Eine pauschale, vollständige Auflistung aller möglichen Parameter würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern ist auch nicht zielführend, weil sie der Heterogenität des Krankheitsbildes nicht gerecht wird. Vielmehr braucht es eine differenzierte, ärztlich gesteuerte Auswahl der passenden Untersuchungen – angepasst an den jeweiligen klinischen Kontext.
Ziel dieser Diagnostik ist nicht der Beweis für ein Post-COVID-Syndrom an sich, sondern vielmehr die Identifikation behandelbarer Teilaspekte
Dr. Schultheiß: Die Behandlung erfolgt grundsätzlich integrativ, das heißt unter Einbezug funktioneller, schulmedizinischer und naturheilkundlicher Konzepte – individuell abgestimmt auf die Beschwerden, Ressourcen und die Lebensrealität der jeweiligen Patienten. Die funktionelle Medizin bildet dabei einen wichtigen Grundpfeiler, wird jedoch nicht dogmatisch als alleiniger Ansatz verfolgt. Je nach Schweregrad und Dynamik der Erkrankung werden ergänzend auch andere evidenzbasierte Therapieverfahren eingesetzt. Je stärker das System betroffen ist, desto gezielter und tiefgreifender muss therapeutisch interveniert werden – stets unter Berücksichtigung der individuellen Belastbarkeit und Umsetzbarkeit im Alltag.
Der Einstieg in die Behandlung beginnt mit einer ausführlichen Anamnese, die durch einen strukturierten Anamnesebogen vorbereitet und in einem ca. 90-minütigen Erstgespräch vertieft wird. Ziel ist ein ganzheitliches Verständnis der Krankheitsgeschichte, potenzieller Auslöser sowie pathophysiologischer Zusammenhänge. Ein besonderer Fokus liegt auf der Psychoedukation, also der verständlichen und einfühlsamen Erklärung individueller Krankheitsmechanismen. Im weiteren Verlauf wird gemeinsam eine erste Zieldefinition vorgenommen: Welche Symptome stehen aktuell im Vordergrund? Gibt es sozialmedizinische Fragestellungen? Welche Belastungen müssen kurzfristig adressiert werden?
Darauf aufbauend wird entschieden, welche weiterführende Diagnostik im individuellen Fall sinnvoll und notwendig ist. Diese orientiert sich an der klinischen Einschätzung, den anamnestischen Hinweisen sowie an bereits vorhandenen Befunden. Es kommt kein starres Protokoll zum Einsatz, sondern eine zielgerichtete Auswahl aus verschiedenen diagnostischen Optionen. Auf Grundlage der vorliegenden Informationen erfolgt eine vorläufige Priorisierung pathophysiologischer Schwerpunkte, wie z. B.
Neuroinflammation, mitochondriale Dysfunktion, Dysautonomie oder Mastzellaktivierung. Diese dient als Orientierung für die therapeutische Strategie, wird jedoch in jeder Konsultation iterativ überprüft und bei Bedarf angepasst.
Aus dem gesamten diagnostischen und therapeutischen Verlauf entwickelt sich ein
dynamischer Behandlungsplan, der kontinuierlich weiterentwickelt wird – abhängig vom Therapieansprechen, dem Auftreten möglicher Nebenwirkungen, neu aufgetretenen Symptomen oder sich verändernden Lebensumständen. Die Therapie folgt dabei einem phasenbasierten Vorgehen, das sich am aktuellen Zustand, der Belastbarkeit und dem Therapieverlauf der Patienten orientiert:
Ziel dieses schrittweisen Vorgehens ist eine realistische, tragfähige und adaptive
Begleitung, die der Komplexität des Krankheitsbildes gerecht wird. Die Behandlung soll stabilisieren, ohne zu überfordern – und dabei immer auch die Ressourcen und
Lebensrealität der Patienten respektieren.
Dr. Schultheiß: Die Regulierung des Immunsystems und der Mastzellaktivierung erfolgt stets individuell und phasenangepasst – orientiert an Schweregrad, Symptomprofil und Therapieverlauf der jeweiligen Patienten. Insbesondere bei Patienten mit MCAS-assoziierten Symptomen gestaltet sich der Einstieg oft pragmatischer und niederschwelliger als bei komplexeren immunologischen Dysbalancen.
Die Mastzellregulation ist dabei ein systematisches, stufenweises Vorgehen:
Die Immunregulation geschieht differenziert, multimodal und individuell: Die Regulation des Immunsystems ist komplexer, da sie tiefgreifende systemische Prozesse umfasst und je nach immunologischer Lage unterschiedliche therapeutische Ansätze erfordert:
Insgesamt erfolgt auch die Immunmodulation nicht nach festem Schema, sondern
individualisiert und adaptiv. Jede Maßnahme wird hinsichtlich ihrer Verträglichkeit,
klinischen Relevanz und Nachhaltigkeit sorgfältig abgewogen.
Dr. Schultheiß: Interventionelle Therapien, wie z. B. die Vagusnervstimulation, kommen in der Long-COVID-Therapie nicht als Erstmaßnahme, sondern erst in den weiterführenden Behandlungsphasen ergänzend zum Einsatz. Ziel ist die gezielte Modulation zentraler Steuerachsen, insbesondere der autonomen Regulation, um Heilungsprozesse zu fördern und eine bessere systemische Resilienz zu ermöglichen.
Da ich ausschließlich Online-Sprechstunden anbiete, fokussiert sich meine Empfehlung auf selbst anwendbare Verfahren, die sich niedrigschwellig, sicher und individuell
adaptierbar in den Alltag integrieren lassen. Dazu zählen u. a. nicht-invasive vagale
Stimulationsverfahren, etwa über aurikuläre TENS-Geräte oder eine gerätegestützte
Vibrationstherapie zur vegetativen Modulation. Weitere interventionelle Verfahren wie die Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Therapie (IHHT) oder die Bioresonanztherapie können in stabileren Krankheitsphasen empfohlen werden – immer unter der Voraussetzung, dass Konstitution und individueller Verlauf dies zulassen.
Auch milde Formen der hyperbaren Sauerstofftherapie (mHBOT) werden mitunter von Patienten eingebracht und im Verlauf gemeinsam reflektiert. Invasive interventionelle Therapieverfahren, etwa Apheresen oder Immunadsorption, werden in meiner Praxis äußerst zurückhaltend bewertet. Insbesondere in der von mir begleiteten Patientenkohorte sind diese Verfahren häufig mit erheblichen Risiken verbunden – etwa symptomatischen Verschlechterungen (Crashes) – und zeigen keinen konsistenten, nachhaltigen Nutzen im Langzeitverlauf.
Interventionelle Verfahren können unter bestimmten Voraussetzungen als ergänzende
Impulsgeber dienen, sind jedoch niemals Basis der Behandlung, sondern eingebettet in ein individuelles, phasenorientiertes Gesamtkonzept. Ihre Anwendung erfolgt stets
indikationsbezogen und unter sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko, orientiert an der aktuellen Stabilität der Patienten.
Ziel ist die gezielte Modulation zentraler Steuerachsen, insbesondere der autonomen Regulation, um Heilungsprozesse zu fördern und eine bessere systemische Resilienz zu ermöglichen.
Dr. Schultheiß: Heilfasten kommt bei mir typischerweise in den späteren Therapiephasen zum Einsatz – also erst dann, wenn eine gewisse systemische Stabilität erreicht wurde und keine akute Verschlechterungsgefahr besteht. Ziel ist dabei die gezielte Modulation mitochondrialer Prozesse, insbesondere im Rahmen einer sekundären Mitochondriopathie, wie sie bei Long-COVID häufig zu beobachten ist.
Fasten wirkt dabei als starker metabolischer Stimulus, der unter anderem die Autophagie, die Entzündungsregulation und die Sirtuinaktivität fördert – also zentrale Mechanismen, die in der Regeneration und Zellreparatur eine Rolle spielen. Die Auswahl der Fastenmethode erfolgt individuell und orientiert sich an der klinischen Situation, der Alltagsbelastung und den Vorerfahrungen der Patienten. Zur Anwendung kommen beispielsweise Buchinger Fasten oder Scheinfasten.
Allen Ansätzen gemeinsam ist die Reduktion von Glukose- und Insulinspiegeln, die zu einer Erhöhung des NAD+/NADH-Quotienten und damit zur Aktivierung von Sirtuinen führt. Diese NAD+-abhängigen Enzyme (SIRT1–7) spielen eine entscheidende Rolle für mitochondriale Funktion, Zellstressantworten und epigenetische Regulation.
Fasten ist kein Selbstzweck, sondern wird gezielt als therapeutischer Impulsgeber eingesetzt – eingebettet in ein integratives Gesamtkonzept und stets unter Berücksichtigung der individuellen Verträglichkeit und Krankheitsphase.
Dr. Schultheiß: Die Ernährung spielt bei Long-COVID eine wichtige Rolle: Sie beeinflusst, wie stark Entzündungen im Körper sind, wie gut das Immunsystem arbeitet und wie der Stoffwechsel funktioniert. Ziel ist eine entlastende und entzündungshemmende Ernährung, die gut verträglich ist und den Körper nicht zusätzlich stresst.
Empfohlen wird eine möglichst natürliche, frische Ernährung, mit viel Gemüse, guten
Fetten wie Omega-3, und möglichst wenig Zucker und stark verarbeiteten Lebensmitteln. Diese können Entzündungen fördern. Gluten muss nicht generell gemieden werden – nur, wenn es nachweislich oder spürbar nicht vertragen wird. Wenn Beschwerden auf eine Mastzellaktivierung (MCAS) hinweisen, kann es helfen, eine Zeit lang histaminarme oder histaminfreie Lebensmittel zu essen. Dabei ist es wichtig, mögliche Auslöser zu erkennen und die Ernährung Schritt für Schritt anzupassen.
Bei PoTS (einer Kreislaufregulationsstörung) haben sich mehrere kleine Mahlzeiten am Tag als hilfreich erwiesen. Große, kohlenhydratreiche Mahlzeiten können die Beschwerden verschlimmern. Oft hilft es, den Kohlenhydratanteil zu reduzieren und stattdessen auf mehr Eiweiß und Salz zu achten. Ernährung ersetzt keine Therapie, ist aber ein wertvoller Baustein. Sie wird immer individuell abgestimmt – je nachdem, was die betroffene Person verträgt und braucht.
Dr. Schultheiß: Antioxidantien spielen bei Long-COVID eine wichtige Rolle – besonders bei Menschen, die unter oxidativem Stress, Problemen mit den Mitochondrien (den "Kraftwerken" der Zellen) oder Nervenentzündungen leiden. Diese Vorgänge werden als mögliche Ursachen für viele Beschwerden bei Long-COVID und auch bei ME/CFS angesehen. Es gibt einige Antioxidantien, die sich besonders bewährt haben:
Diese Stoffe sind in der Regel gut verträglich und werden oft schon früh in der Behandlung empfohlen – unter anderem auch in den Therapieempfehlungen der Charité Berlin. Noch besser wirken sie, wenn vorher gezielt im Labor gemessen wird, ob bestimmte Werte wie Vitamin C, B-Vitamine, Glutathion oder Selen fehlen oder aus dem
Gleichgewicht geraten sind. Dann kann man die Präparate ganz gezielt einsetzen, um
Energie, Zellschutz und das Immunsystem zu unterstützen.
Antioxidantien sind kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Baustein im Therapieplan, wenn sie individuell und zur richtigen Zeit eingesetzt werden.
Dr. Schultheiß: Im Moment gibt es kein zugelassenes Medikament, das gezielt gegen Long-COVID wirkt. Stattdessen werden verschiedene Mittel eingesetzt, die bestimmte Symptome lindern sollen – oft in einem sogenannten Off-Label-Einsatz, also außerhalb ihrer ursprünglichen Zulassung. Um mehr Klarheit und Struktur in die Behandlung zu bringen, hat das Bundesministerium für Gesundheit eine Expertengruppe beauftragt. Diese soll prüfen, welche Medikamente bei Long-COVID hilfreich sein könnten und eventuell in Zukunft zur regulären Behandlung gehören könnten. Aktuell diskutierte Medikamente sind zum Beispiel:
Kritisch zu bewerten sind aus meiner Sicht dagegen Medikamente wie die empfohlenen Vortioxetin und Agomelatin. Beide stammen aus der Gruppe der Antidepressiva, doch es gibt keine ausreichenden Studien oder Erfahrungen, die ihre Wirksamkeit bei Long-COVID oder ME/CFS bestätigen würden. Vortioxetin beeinflusst das Serotonin-System im Gehirn, Agomelatin wirkt an den Melatonin-Rezeptoren. Beide greifen aber nicht in die zentralen Krankheitsmechanismen wie Entzündungen im Nervensystem, Störungen des Immunsystems oder Probleme in der Energiegewinnung ein. Deshalb werden sie auch in wichtigen internationalen Leitlinien (z. B. NICE, NIH oder der Charité) nicht als sinnvolle Behandlungsoptionen empfohlen. Aus meiner Sicht sind sie für Long-COVID nicht zielführend.
Weitere Medikamente, die in der Praxis oft verwendet werden, aber nicht offiziell empfohlen sind:
Wichtig ist: Keines dieser Medikamente heilt Long-COVID. Ihr Einsatz erfolgt individuell und abgestimmt auf die Symptome und die Krankheitsphase. Sie sind Teil eines größeren, ganzheitlichen Behandlungskonzepts. Es gibt noch viele weitere mögliche Medikamente – welche sinnvoll sind, muss immer im Einzelfall und mit genauer Abwägung von Nutzen und Nebenwirkungen entschieden werden.
Dr. Schultheiß: Bestimmte Mikronährstoffe können in der Behandlung von Long-COVID und ME/CFS hilfreich sein – vor allem dann, wenn es Hinweise auf einen Mangel gibt oder typische Beschwerden wie Energielosigkeit, Entzündungen oder eine gestörte Zellfunktion vorliegen. Einige dieser Stoffe gelten als Grundbausteine in der Therapie, andere sind unterstützend wirksam – auch wenn es dazu noch nicht viele Studien gibt. Wichtige Mikronährstoffe mit therapeutischem Potenzial sind:
Diese Stoffe können individuell kombiniert werden – je nach Beschwerden, Laborwerten und Verträglichkeit. Statt einfach "auf Verdacht" alles zu nehmen, ist es besser, die Auswahl auf Basis einer gezielten Diagnostik (z. B. Blutuntersuchung der Mikronährstoffe) zu treffen. Zusätzlich können weitere Stoffe wie Vitamin C (antioxidativ, immunregulierend), Vitamin D, Zink oder Selen ergänzt werden – sofern es zum Krankheitsbild passt.
Einige dieser Stoffe gelten als Grundbausteine in der Therapie, andere sind unterstützend wirksam – auch wenn es dazu noch nicht viele Studien gibt.
Dr. Schultheiß: Long-COVID ist keine einheitliche Krankheit, sondern ein vielschichtiges Syndrom mit ganz unterschiedlichen Ursachen, Symptomen und Verläufen. Wie lange die Genesung dauert, hängt stark davon ab, welche Mechanismen im Körper gestört sind, wie früh mit der Behandlung begonnen wurde und wie konsequent Betroffene mit ihrer Erkrankung umgehen. Zur Einschätzung der Schwere und des Verlaufs kann der sogenannte Bell-Score genutzt werden – eine Skala von 0 (bettlägerig) bis 100 (voll belastbar), die ursprünglich für ME/CFS entwickelt wurde, inzwischen aber auch bei Long-COVID zum Einsatz kommt.
Leichte Verläufe (Bell-Score z. B. bei 70–80) entstehen oft durch eine vorübergehende Störung des Nervensystems, kombiniert mit oxidativem Stress, Nährstoffmängeln und unzureichender körperlicher Schonung nach der Infektion. Wenn frühzeitig
gegengesteuert wird – etwa durch gutes Energiemanagement (Pacing), gezielte
Nährstoffgaben und psychosomatische Unterstützung – kann sich der Körper häufig
innerhalb weniger Monate weitgehend oder sogar vollständig erholen.
Schwere Verläufe (z. B. Bell-Score bei 0–30) sind meist komplexer. Hier liegen oft stärkere Störungen im Immunsystem und Nervensystem vor, manchmal auch chronische Entzündungsreaktionen, Fehlfunktionen des autonomen Nervensystems oder
Organschäden wie z. B. eine Herzmuskelentzündung. Häufig besteht zudem eine
genetische Veranlagung, die die Erholung erschwert. In solchen Fällen ist es für Betroffene oft kaum möglich, sich ausreichend zu schonen, was zu einer Abwärtsspirale führen kann.
Die Erkrankung wird dann mitunter chronisch – etwa im Sinne einer ME/CFS-Diagnose – und die Behandlung wird langwieriger und aufwendiger. Bei ME/CFS spricht man eher von Remission als von Heilung. Remission bedeutet, dass die Beschwerden weitgehend verschwunden sind – es gibt aber keine Garantie, dass es dauerhaft so bleibt. Trotzdem gibt es dokumentierte Fälle von vollständiger Erholung, weshalb der Begriff "Heilung" nicht ausgeschlossen, aber vorsichtig verwendet werden sollte.
Insgesamt kann die Erholung von Long-COVID mehrere Monate bis Jahre dauern. Anfangs liegt der Fokus auf Stabilisierung, Linderung der Symptome und der Rückgewinnung von Alltagsfunktionen. Erst später – abhängig vom Verlauf – kann das Ziel auf eine mögliche Heilung oder weitgehende Beschwerdefreiheit erweitert werden.
Dr. Schultheiß: Die Forschung zu Long-COVID entwickelt sich stetig weiter – auch wenn unser Wissen über die Erkrankung noch lückenhaft ist. Wissenschaftler untersuchen derzeit viele verschiedene Bereiche: Wie entsteht Long-COVID genau? Welche körperlichen Prozesse sind gestört? Gibt es messbare Veränderungen im Blut oder Gewebe (sogenannte Biomarker)? Und wie kann man Betroffene besser diagnostizieren und behandeln?
Da Long-COVID ganz unterschiedliche Symptome und Verläufe zeigt, ist es wichtig, dass viele Fachrichtungen zusammenarbeiten – etwa Immunologie, Neurologie, Kardiologie und Psychosomatik. Nur so lässt sich das komplexe Krankheitsbild besser
verstehen. Heute gelten mehrere körperliche Veränderungen als wissenschaftlich gesichert: Dazu gehören etwa eine anhaltende Aktivierung des Immunsystems, Reste von Virusbestandteilen im Körper, Entzündungen im Nervensystem, eine Überaktivität der Mastzellen, Störungen der Energieproduktion in den Zellen (Mitochondrien) sowie eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems. Welche dieser Mechanismen bei
welcher Person wie stark ausgeprägt sind, ist aber noch nicht abschließend geklärt.
Neue Forschungsergebnisse werden nach und nach in medizinische Empfehlungen eingebaut – zum Beispiel in die Leitlinie der AWMF (Stand 2023), die britischen NICE-
Empfehlungen oder in die Therapieempfehlungen der Long COVID-Arbeitsgruppe an der Charité. Dort wird auch der Einsatz von Medikamenten außerhalb ihrer ursprünglichen Zulassung (off-label) diskutiert. Zentrales Prinzip bleibt dabei: Die Behandlung muss immer individuell auf die jeweilige Situation abgestimmt werden.
Ein echter Durchbruch im Sinne einer gezielten, heilenden Therapie steht allerdings noch aus. Aktuell orientieren sich viele Behandlungen an den vermuteten körperlichen
Prozessen, an konkreten Beschwerden und an der individuellen Einschätzung durch
erfahrene Behandler. Trotz vieler offener Fragen ist klar: Das Verständnis von Long-COVID wächst stetig – sowohl wissenschaftlich als auch in der Praxis. Das Ziel bleibt, Schritt für Schritt bessere Diagnose- und Behandlungswege zu entwickeln.
Danke für das Interview!
Letzte Aktualisierung am 09.09.2025.